Biest: Thriller (German Edition)
PROLOG
Moskau, Russland
Juni 2011
Die ausladenden Kronleuchter des großen Saals im Kreml funkelten heute nur für Freunde des ewigen Präsidenten. Der normalerweise für den Empfang von Staatschefs reservierte, riesige Raum mit auf Hochglanz poliertem, reich mit Intarsien verziertem Parkett und den höchsten Decken, die Russland zu bieten hatte, stammte aus einer Zeit alter Größe. Aber Zeit und Größe verloren von jeher an den riesigen Pforten des russischsten aller Gebäudekomplexe Moskaus ihre Bedeutung. Was letztere Einschätzung anging, hätte der Präsident im Scherz behaupten können, selbst die Lubjanka, jenes berühmt-berüchtigte KGB-Gefängnis, sei russischer als ausgerechnet der Kreml. Ein lautes Lachen wäre dieser Bemerkung zwangsläufig gefolgt, natürlich nur ein Scherz. Der heutige Abend unter handverlesenen Freunden des russischen Staatsoberhaupts, begleitet von sanften Streicherklängen und im funkelnden Licht der Kandelaber, war ein perfekter Anlass für solche intimen Scherze, deren Wahrheitsgehalt und ihre Undenkbarkeit zugleich die eigentliche Pointe bildeten.
Das Biest, von dem niemand, der noch lebte, wusste, warum er so genannt wurde, betrat den Saal in Begleitung seiner Gattin um genau 19.55 Uhr, wie ihm ein zufriedener Blick auf seine reich verzierte goldene Armbanduhr verriet. Er kannte das Protokoll immer noch gut genug, um pünktlich zu sein, ohne wie ein alberner Speichellecker zu wirken. Er lächelte seiner Frau zu und hoffte, dass sie die Verlogenheit dahinter nicht bemerkte, denn natürlich wäre er viel lieber mit Mascha zum Präsidenten gegangen. Seine Augen schweiften unauffällig durch den Saal, und er entdeckte jede Menge bekannter Gesichter. Kein Wunder, schließlich drängte sich die halbe neue Elite Russlands um die gigantische Tafel, die sich wie in guten alten Zeiten unter opulenten Platten mit erlesenen Köstlichkeiten bog und die in etwa achtmal so viel Essen aufbot, wie die versammelte Runde in einer Woche hätte vertilgen können. Heute Abend galten die neuen Gesetze nicht, die vorschrieben, dass sich die russische Seele an die westliche Kultur annähern sollte, um nicht gestrig zu wirken. Das Biest lächelte ob des kleinen, aber für den Präsidenten bedeutenden Signals. Diese Nacht galt als Signal für die tiefe Verbundenheit der alten Machtzirkel mit der neuen dünnen Elite, die wie smarte Investmentbanker aussah, sich gewählt ausdrückte und weniger Wodka trank. Sie erfüllten auch heute Abend ihre perfekte Zweckehe, die Ex-KGB-Funktionäre und die neuen Eigentümer ehemaliger Staatsunternehmen wie Gazprom und Vneshtorgbank. Eine neue Runde mit den gleichen Spielern und ihren Ziehsöhnen. Während das Biest darüber sinnierte, betrachtete er das lilafarbene Abendkleid seiner Gattin und stellte sich seine zweiundzwanzigjährige Geliebte darin vor, was seine Frau mit resignierter Miene zur Kenntnis nahm. Sie standen etwas abseits, am Rand des riesigen Saals, und er starrte mit leeren Augen in die Menge. Wieder einmal wurde ihm nur allzu deutlich, dass er zwar dabei sein durfte, aber dennoch weit davon entfernt war, zu ihnen zu gehören. Er stand in der zweiten Reihe zwischen den Stühlen. Auch er hatte im Westen studiert, aber eben nicht in Harvard oder Cambridge, sondern nur an der Columbia. Von Jelzin hatte er einst die größte Tankstellenkette des Landes und einen Futtermittelhersteller erschlichen, abgesichert über einen Kredit bei einer Bank, die dann in die Pleite gerutscht war. Nicht nur seiner, sondern die Kredite der meisten hier Anwesenden waren als nicht pfändbar eingestuft worden, worüber jeder unabhängige Wirtschaftsprüfer nur den Kopf geschüttelt hätte. Doch nicht so der Insolvenzverwalter jener Bank, der in diesem Moment auf der anderen Seite des Raumes stand und gelangweilt die Perlen in seinem Champagnerglas zählte. Die Unternehmen besaß das Biest längst nicht mehr, er hatte sie gegen lukrativere Beteiligungen eingetauscht. Er war schon immer das Deut cleverer gewesen, das ihn heute zum Außenseiter stempelte. Wortlos nahm er seine Frau am Arm und schob sie in Richtung der für sie vorgesehenen Plätze, etwa zwanzig Stühle vom Gastgeber entfernt. Wenigstens als er sich setzte, erntete er das eine oder andere Schulterklopfen, mehr gönnerhaft als freundschaftlich. Dabei besaß auch er selbst unermesslich viel Geld, er war nahe daran, ein Milliardär zu sein, zumindest auf dem Papier. Aber was zählte heute Abend schon eine
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