Bildnis eines Mädchens
wohl. Sobald es ihr nach ihrer Ankunft in Venedig etwas besser gegangen war, hatte sie darüber nachgedacht,was nun werden sollte. Sie brauchte Arbeit. Venedig war ein beliebtes Reiseziel, es gab reichlich Unterkünfte, und Nika brachte
ein gutes Arbeitszeugnis von Signore Robustelli mit. Das Einfachste wäre gewesen, in den Hotels und Pensionen nachzufragen.
Doch Nika grübelte darüber nach, ob sich nicht eine andere Lösung finden ließe. Sie vermisste das Zeichnen und wusste doch
zugleich, dass sie ohne Anleitung nicht weiterkommen würde. Und Zeichenpapier, Leinwand und Farben waren teuer. Es gab zwar
einige Kunstakademien in Venedig, aber wie sollte sie die Ausbildung bezahlen?
Seit die Dienerin ihr das Bild ihrer Mutter gegeben hatte, hatte sich eine neue Idee in ihrem Kopf festgesetzt. Sie dachte
an die Fotografien des Grafen Primoli, die sie so begeistert hatten, an ihre Gespräche mit Fabrizio über die moderne, zukunftsweisende
Kunst der Fotografie und an seinen Satz, dass man in Venedig als Fotograf ein gutes Auskommen finden könne. Und wie glücklich
war sie selbst darüber, dass es Fotografien gab. Die Kunst des Antonio Sorgato hatte ihr mit dem Porträt ihrer Mutter ein
unschätzbares Geschenk gemacht.
So machte sie sich eines Tages auf zum Campiello del Vin, der Adresse des Fotostudios, die auf der Fotografie vermerkt war.
Den Laden gab es noch, aber Antonio Sorgato war schon vor Jahren gestorben. Enttäuscht verließ sie das Geschäft und ging langsam
über die Riva degli Schiavoni auf die Piazza San Marco zu. Und plötzlich, weil man eher sieht, was man sucht, bemerkte sie
ein Fotoatelier nach dem anderen. Das Fotografieren war offensichtlich eine einträgliche Kunst. Vor allem hier, an diesem
Ort, den jeder für seine Erinnerungen festhalten wollte.
Sie fasste sich ein Herz, kehrte um und fragte nach dem neuen Besitzer des Fotostudios Sorgato. Er stand selbst hinter dem
Ladentisch. Das Geschäft florierte so außerordentlichgut, dass Signore Filippi im Laden aushelfen musste, obwohl er eigentlich im Fotostudio hätte arbeiten sollen. Er war deshalb
nicht abgeneigt, einen Gehilfen einzustellen, auch wenn dieser weiblich war. Und da Nika einen erfreulichen, vielleicht sogar
verkaufsfördernden Anblick in seinem Laden bieten würde, willigte er ein, sie ab der kommenden Woche bei sich zu beschäftigen.
Auf Nikas Frage, ob er bereit sei, sie zur Fotografin auszubilden, antwortete er, wenn sie Talent zeige, so spreche nichts
dagegen. Die Welt im frühen Rausch der technischen Reproduzierbarkeit konnte eine Menge Fotografen brauchen, warum nicht auch
weibliche.
Nika verließ den Laden des Signore Filippi mit einem Hochgefühl, wie sie es nur einmal erlebt hatte, damals, als sie schreiben
und lesen lernte.
In einem Taumel von Glück kaufte sie eine Tüte Vogelfutter und fütterte die Tauben auf der Piazza San Marco. Und zum ersten
Mal in ihrem Leben ging sie in eine Bar und bestellte ein Glas Spumante. Von San Giorgio Maggiore schallte der Kanonenschuss
herüber, der das Signal für die Mittagszeit gab, und Nika empfand plötzlich eine große Sehnsucht nach Fabrizio Bonin. Sie
wischte alle Bedenken beiseite und suchte ihn auf. Sie fand ihn in einer kleinen Trattoria gleich beim Zeitungsgebäude. Mit
einem glücklichen Lächeln stellte sie sich vor ihn hin und sagte: »Du kannst mich auch wegschicken …«
Überrascht erhob er sich, aber da küsste sie ihn schon auf den Mund. Seine Lippen schmeckten nach Meer und nach der Schärfe
der Peperoncini, die der Koch in diesem Lokal liebte.
»Warum sollte ich dich wegschicken?«, fragte Fabrizio und küsste sie zurück.
»Ich weiß nicht«, antwortete Nika. »Ich bin es so gewohnt.«
Wenige Wochen später hatte sie ein bescheidenes Zimmergefunden, das sie bezahlen konnte. Sie stand auf eigenen Beinen.
»Ich bin Fotografin geworden«, sagte Nika, und Benedetta schaute sie an, als wisse sie nicht, was sie darauf sagen sollte.
»Bleibst du zum Essen?«, fragte sie, um schnell wieder auf vertrauteres Gelände zu kommen.
Nika schüttelte den Kopf. »Nein. Ich schlafe auch im Hotel. Ich wusste ja nicht, dass du Platz hast. Aber können wir nicht
zusammen Gian besuchen, ehe ich wieder abreise?«
Benedetta setzte ihr skeptisches Gesicht auf. »Jetzt, wo er endlich ein Mädchen hat? Ihn bringt doch alles gleich durcheinander.«
***
Mathilde war errötet, als sie James die Hand gereicht und dieser sie
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