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Billard Um Halb Zehn: Roman

Billard Um Halb Zehn: Roman

Titel: Billard Um Halb Zehn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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vorsichtig ging sie im Atelier hin und her, öffnete Schranktüren, hob Kistendeckel, schnürte Pakete auf, entrollte Zeichnungen; selten kam sie ans Fenster, ihn zu stören; nur wenn ein Dokument kein Datum, eine Zeichnung keinen Namen trug. Er hatte die Ordnung immer geliebt und nie gehalten. Leonore würde sie schaffen, sie häufte, nach Jahren geordnet, auf dem großen Atelierboden Dokumente und Zeichnungen, Briefe und Abrechnungen aufeinander; nach fünfzig Jahren noch zitterte der Boden unter dem Stampfen der Druckereimaschinen; neunzehnhundertsieben, acht, neun, zehn; schon war Leonores Stapeln anzusehen, daß sie mit dem wachsenden Jahrhundert größer wurden, neunzehnhundertneun war größer als neunzehnhundertacht, zehn größer als neun. Leonore würde die Kurve seiner Tätigkeiten herausfinden, sie war auf Präzision gedrillt.
    »Ja«, sagte er, »stören Sie mich getrost, Kind. Das? Das ist das Krankenhaus in Weidenhammer; ich habe es im Jahr 1924 gebaut, es wurde im September eingeweiht.« Und sie schrieb mit ihrer säuberlichen Handschrift auf den Rand der Zeichnung 1924/9.
    Magere Häufchen blieben die Kriegsjahre vierzehn bis achtzehn; drei, vier Zeichnungen; ein Landhaus für den General, eine Jagdhütte für den Oberbürgermeister, eine Sebastianus- Kapelle für die Schützenbrüder. Urlaubsaufträge, mit kostbaren Tagen honoriert; um seine Kinder sehen zu dürfen, hätte er den Generälen kostenlos Schlösser gebaut.
    »Nein, Leonore, das war 1935. Franziskanerinnenkloster. Modern? Natürlich, ich habe auch moderne Sachen gebaut.«
    Immer war ihm der Rahmen des großen Atelierfensters wie ein Wechselrahmen erschienen: die Farben des Himmels wechselten, die Bäume in den Hinterhöfen wurden grau, wurden
    verblühten. Kinder spielten auf Bleidächern, wurden erwachsen, wurden zu Eltern, ihre Eltern zu Großeltern; andere Kinder spielten auf den Bleidächern; nur das Profil der Dächerlinie blieb, es blieb die Brücke, blieben die Berge, die an klaren Tagen am Horizont sichtbar wurden - bis der zweite Krieg das Profil der Dächerlinie veränderte, Lücken wurden gerissen, in denen an sonnigen Tagen silbern, an trüben grau der Rhein sichtbar wurde und die Drehbrücke am alten Hafen drüben; längst waren die Lücken wieder geschlossen, spielten Kinder auf Bleidächern, ging seine Enkelin drüben auf dem Kilbschen Bleidach mit Schulbüchern in der Hand auf und ab, wie vor fünfzig Jahren seine Frau dort auf- und abgegangen war - oder war's nicht doch Johanna, seine Frau, die an sonnigen Nachmittagen dort Kabale und Liebe las?
    Das Telefon klingelte; angenehm, daß Leonore den Hörer abnahm, ihre Stimme dem unbekannten Anrufer Antwort gab.
    »Cafe Kroner? Ich werde den Herrn Geheimrat fragen.«
    »Wieviel Personen am Abend erwartet werden? Geburtstagsfeier?« Genügen die Finger einer Hand, sie aufzuzählen? »Zwei Enkel, ein Sohn, ich - und Sie. Leonore, werden Sie mir die Freude machen?«
    Also fünf. Die Finger einer Hand genügen. »Nein, keinen Sekt. Alles wie besprochen. Danke, Leonore.«
    Wahrscheinlich hält sie mich für verrückt, aber wenn ich's bin, bin ich's immer gewesen; ich sah alles voraus, wußte genau, was ich wollte, und wußte, daß ich's erreichen würde; nur eins wußte ich nie, weiß ich bis heute nicht: warum tat ich es? Des Geldes wegen, des Ruhmes wegen, oder nur, weil es mir Spaß machte? Was hab ich gewollt, als ich an diesem Freitagmorgen, am 6. September 1907, vor einundfünfzig Jahren da drüben aus dem Bahnhof trat? Ich hatte mir Handlungen, Bewegungen, einen präzisen Tageslauf vorgeschrieben, von dem Augenblick an, da ich die Stadt betrat, eine komplizierte Tanzfigur
    Person war; Komparserie und Kulissen standen mir kostenlos zur Verfügung.
    Zehn Minuten nur blieben mir, bis der erste Tanzschritt getan werden mußte: über den Bahnhofsvorplatz hinaus, am Hotel Prinz Heinrich vorüber, die Modestgasse überqueren und ins Cafe Kroner gehen. An meinem neunundzwanzigsten Geburtstag betrat ich die Stadt. Septembermorgen. Droschkengäule bewachten ihre schlummernden Herren; Hotelboys in der violetten Uniform des Prinz Heinrich schleppten Koffer hinter Gästen her in den Bahnhof; vor Banken wurden würdige Gitter hochgeschoben, rollten mit solidem Geräusch in Reservekammern; Tauben; Zeitungsverkäufer; Ulanen; eine Schwadron ritt am Prinz Heinrich vorüber, der Rittmeister winkte einer Frau mit rosenrotem Hut; sie stand verschleiert auf dem Balkon, warf eine Kußhand

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