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Billard Um Halb Zehn: Roman

Billard Um Halb Zehn: Roman

Titel: Billard Um Halb Zehn: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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So-was-dürfte- nicht- geboren-werden; nur noch einmal den Spruch hören Weide meine Lämmer, und von der Frau hören, die im Sommerregen im Gras gelegen hatte; ankernde Schiffe, Frauen, die über Stege schritten, und der Ball, den Robert schlug, Robert, der nie vom Sakrament des Büffels gegessen hatte, stumm weiterspielte,
    immer neue Figuren mit dem Stock aus zwei Quadratmetern schlug.
    »Und du, Hugo«, sagte er leise, »willst du mir heute nichts erzählen?«
    »Ich weiß nicht, wie lange es war, aber ich meine, es wäre ewig gewesen: immer, wenn die Schule aus war, schlugen sie mich. Manchmal wartete ich, bis ich sicher wußte, sie waren alle zum Essen gegangen, und die Frau, die die Schule putzte, war schon unten bei dem Flur, wo ich wartete, angekommen und fragte: ›Was machst du denn noch hier, Junge? Deine Mutter wartet doch sicher auf dich.‹
    Aber ich hatte Angst, wartete, bis auch die Putzfrau ging, und ließ mich in die Schule einschließen; es gelang mir nicht immer, denn meistens warf mich die Putzfrau hinaus, bevor sie abschloß, aber wenn es mir gelang, eingeschlossen zu werden, war ich froh; zu essen fand ich in den Pulten und in den Abfalleimern, die die Putzfrau für die Müllabfuhr im Flur bereitgestellt hatte, genug belegte Brote, Äpfel und Kuchenreste. So war ich allein in der Schule, und sie konnten mir nichts tun. Ich duckte mich in die Lehrergarderobe, hinter dem Kellereingang, weil ich Angst hatte, sie könnten zum Fenster hereinschauen und mich entdecken, aber es dauerte lange, bis sie herausbekamen, daß ich mich in der Schule versteckte. Oft hockte ich da stundenlang, wartete, bis es Abend wurde, bis ich ein Fenster öffnen und hinaussteigen konnte. Oft blickte ich lange auf den leeren Schulhof: gibt es etwas Leereres als so einen Schulhof am späten Nachmittag? Das waren herrliche Zeiten, bevor sie herausbekamen, daß ich mich in der Schule einschließen ließ. Ich hockte da, in der Lehrergarderobe oder unterhalb der Fensterbank, und wartete auf etwas, das ich nur dem Namen nach kannte: auf Haß. Ich hätte sie so gern gehaßt, aber ich konnte nicht, Herr Doktor. Nur Angst. An manchen Tagen wartete ich auch nur bis drei oder bis vier und dachte, sie
    wären jetzt alle gegangen, ich hätte schnell über die Straße, an
    Meids Stall vorüber und um den Kirchhof nach Hause laufen und mich dort einschließen können. Aber sie hatten einander abgelöst, waren abwechselnd zum Essen gegangen - denn aufs Essen verzichten, das konnten sie nicht -, und wenn sie auf mich zurannten, roch ich schon von weitem, was sie gegessen hatten: Kartoffeln mit Sauce, Braten, oder Kraut mit Speck, und während sie mich schlugen, dachte ich: Wozu ist Christus gestorben, was nützt mir denn sein Tod, was nützt es mir, wenn sie jeden Morgen beten, jeden Sonntag kommunizieren und die großen Kruzifixe in ihren Küchen hängen, über den Tischen, von denen sie Kartoffeln mit Sauce, Braten oder Kraut mit Speck essen? Nichts. Was soll das alles, wenn sie mir jeden Tag auflauern und mich verprügeln? Da hatten sie also seit fünfhundert oder sechshundert Jahren - und waren sogar stolz auf das Alter ihrer Kirche -, hatten vielleicht seit tausend Jahren ihre Vorfahren auf dem Friedhof begraben, hatten seit tausend Jahren gebetet und unterm Kruzifix Kartoffeln mit Sauce und Speck mit Kraut gegessen. Wozu? Und wissen Sie, was sie schrien, während sie mich verprügelten? Lamm Gottes. Das war mein Spitzname.«
    Rot über grün, weiß über grün, neue Figuren tauchten wie Zeichen auf; rasch verweht, nichts blieb; Musik ohne Melodie, Malerei ohne Bild; nur Vierecke, Rechtecke, Rhomben in vielfacher Zahl; klingende Bälle am schwarzen Rand.
    »Und später versuchte ich es anders, verschloß die Tür zu Hause, schob Möbel davor, türmte auf, was ich finden konnte. Kisten, Gerümpel und Matratzen, bis sie die Polizei alarmierten, und die kam, den Schulschwänzer abzuholen; die umstellte das Haus, schrie: ›Komm raus, du Bengel‹, aber ich kam nicht raus, und sie brachen die Tür auf, schoben die Möbel beiseite, und sie hatten mich, brachten mich in die Schule, auf daß ich weiter geprügelt, weiter in die Gosse gestoßen, weiter Lamm Gottes geschimpft würde; er hatte doch gesagt: weide meine Lämmer,
    aber sie weideten seine Lämmer nicht, wenn es überhaupt seine
    Lämmer waren. Alles vergebens, Herr Doktor, umsonst weht der Wind, umsonst fä llt der Schnee, umsonst blühen die Bäume und fallen die Blätter - sie

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