Billard um halbzehn
stiegen den dunklen Aufgang an der Westseite hinunter, und ich zögerte noch einen Augenblick, als wir die Straße erreichten; mein Heimweg führte nach rechts, Schrellas Weg nach links, aber dann folgte ich ihm nach links, wo der Weg sich zwischen Holzlagern, Kohlenschuppen und Schrebergärten stadtwärts wand. Wir blieben hinter der ersten Wegbiegung stehen, nun tief in der flachen Nebelschicht drin, beobachteten die Schatten der Schulkameraden, die oberhalb des Brückengeländers sich wie Silhouetten bewegten, hörten den Lärm ihrer Schritte, ihrer Stimmen, als sie den Aufgang herunterkamen, dröhnendes Echo schwer genagelter Schuhe, und eine Stimme rief: ›Nettlinger, Nettlinger, warte doch.‹
Nettlingers laute Stimme warf ein wildes Echo über den Fluß, kam, von den Brückenpfeilern gebrochen, auf uns zurück, verlor sich hinter uns in Gärten und Lagerhallen, Nettlingers Stimme, die schrie: ›Wo ist denn unser Lämmchen mit seinem Hirten geblieben?‹ Lachen, vielfach gebrochenes, fiel wie Scherben über uns.
›Hast du gehört?‹ fragte Schrella.
›Ja‹, sagte ich, ›Lamm und Hirte.‹
Wir blickten auf die Schatten der Nachzügler, die über den Gehsteig kamen; dunkel ihre Stimmen im Aufgang, wurden heller, als sie auf die Straße kamen, brachen sich unter den Brückenbogen, ›der Ball, den Robert schlug‹.
›Genaues‹, sagte ich zu Schrella, ›ich muß Genaues wissen.‹
›Ich will es dir zeigen‹, sagte Schrella, ›komm.‹ Wir tasteten uns durch den Nebel, an Stacheldrahtzäunen entlang, erreichten einen Holzzaun, der noch frisch roch und gelblich schimmerte; eine Glühbirne über einem verschlossenen Tor beleuchtete ein Emailleschild: ›Michaelis, Kohlen, Koks, Briketts.‹
›Kennst du den Weg noch?‹ fragte Schrella.
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›Ja‹, sagte ich, ›vor sieben Jahren sind wir beide ihn oft gegangen und haben unten bei Trischlers gespielt. Was ist aus Alois geworden?‹
›Er ist Schiffer, wie sein Vater war.‹
›Und dein Vater ist noch Kellner da unten in der
Schifferkneipe?‹
›Nein, der ist jetzt am oberen Hafen.‹
›Du wolltest mir Genaues zeigen!‹
Schrella nahm die Zigarette aus dem Mund, zog seine Jacke aus, streifte die Hosenträger von den Schultern, hob sein Hemd hoch, drehte den Rücken ins schwache Licht der Glühbirne: sein Rücken war mit winzigen, rötlich-blauen Narben bedeckt, bohnengroß waren sie - besät, dachte ich, das würde eher stimmen.
›Mein Gott‹, sagte ich, ›was ist das?‹
›Das ist Nettlinger‹, sagte er; ›sie machen es unten in der alten Kaserne an der Wilhelmskuhle. Ben Wackes und Nettlinger. Sie nennen es Hilfspolizei; sie griffen mich auf bei einer Razzia, die sie im Hafenviertel nach Bettlern hielten: achtunddreißig Bettler an einem Tag verhaftet, einer davon war ich. Wir wurden verhört, mit der Stacheldrahtpeitsche. Sie sagten: ›Gib doch zu, daß du ein Bettler bist‹, und ich sagte: ›Ja, ich bin einer.‹«
Immer noch frühstückten verspätete Gäste, sogen Orangensaft wie ein lasterhaftes Getränk in sich hinein; der blasse Junge lehnte an der Tür wie eine Statue, der violette Samt der Uniform ließ seine Gesichtshaut fast grün erscheinen.
»Hugo, Hugo, hörst du, was ich erzähle?«
»Ich, Herr Doktor, ich höre jedes Wort.«
»Bitte, hol mir einen Cognac, einen großen.«
»Ja, Herr Doktor.«
Hart leuchtete Hugo die Zeit entgegen, als er die Treppe zum Restaurant hinunterstieg: der große Kalender, den er morgens
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zurechtzustecken hatte; die große Pappenummer umgedreht, unter den Monat, unters Jahr geschoben: 6. September 1958. Ihn schwindelte, das alles war geschehen, lang bevor er geboren war, das warf ihn Jahrzehnte, halbe Jahrhunderte zurück: 1885, 1903 und 1935 - weit hinter der Zeit war es verborgen und doch da; es klang aus Fähmels Stimme heraus, der am Billardtisch lehnte, auf den Platz vor Sankt Severin blickte. Hugo hielt sich am Geländer fest, atmete tief, wie jemand, der auftaucht, öffnete die Augen und sprang rasch hinter die große Säule.
Da kam sie die Treppe herunter, barfuß, wie ein
Hirtenmädchen gekleidet, den Geruch von Schafsdung im schäbigen Gewand, das kollerartig über ihre Brust bis zur Hüfte herabhing. Nun würde sie Hirsebrei essen, dunkles Brot dazu, ein paar Nüsse, würde Schafsmilch trinken, die im Eisschrank für sie frischgehalten wurde; sie brachte die Milch in Thermosflaschen mit, brachte in kleinen Schachteln Schafsdung, den sie als Parfüm
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