Zeitbombe
1
14. März 2011
Rüdiger Bornmann packte die letzten Utensilien in seinen alten Koffer, klappte den Deckel nach unten und ließ die beiden Schnappverschlüsse einrasten. Der Mann mit den langen, grauen Haaren, der an diesem Tag seinen 52. Geburtstag hätte feiern können, sah sich noch einmal emotionslos um und hob dann den Koffer von der Pritsche.
»Bist du fertig, Rüdiger?«, hörte er eine Stimme in seinem Rücken.
Ein kurzes Nicken, ein weiterer 360-Grad-Blick.
»Ja, ich bin so weit.«
Horst Kohler, der Uniformierte, der mit einem dicken Schlüsselbund in der Hand dastand, trat zur Seite.
»Du weißt, dass ich dich nicht rauslassen würde.«
Bornmann sah ihn müde an.
»Da kann ich ja froh sein, dass du nichts zu sagen hast, Schließer«, erwiderte er und humpelte, auf seinen Stock gestützt, auf Kohler zu.
»Ja, leider.«
Bornmann wollte an ihm vorbei auf den Gang treten, blieb jedoch noch einmal stehen und sah Kohler fest in die Augen.
»Ich weiß, dass du mir misstraust, aber das juckt mich nicht im Geringsten. Es ist mir nämlich scheißegal, was du von mir hältst.«
Seine Augen bewegten sich ein paar Millimeter nach oben.
»Siehst du, Horst, wir sind beide alt geworden hier drin. Wir sind alt geworden, unsere Haare sind grau und dünner geworden, und wenn wir in den Spiegel schauen, fragen wir uns, wo die ganzen Jahre geblieben sind. Der Unterschied ist, dass du jeden Abend nach Hause gegangen bist, zu deiner Frau und den Kindern, wohingegen ich mich seit 21 Jahren, vier Monaten und sechs Tagen nicht aus diesem Bunker hinausbewegen durfte. Du bist einmal im Jahr in Urlaub gefahren, ich musste meine Reisen auf den St. Nimmerleinstag verschieben. Aber nun ist es so weit, ab jetzt will ich dich nie mehr sehen, und wenn, dann bei einem Bier in einer gemütlichen Kneipe.«
»Ich will kein Bier mit dir trinken, Rüdiger. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, würdest du nie mehr einen Tag in Freiheit verbringen, aber du hast es eben ganz treffend beschrieben: ich habe halt in dieser Beziehung nichts zu sagen.«
»Gott sei Dank!«, murmelte Bornmann und trat auf den Flur.
»Wir sehen uns wieder, Rüdiger«, erwiderte der Justizbeamte ebenso leise.
»Das kann wohl sein, Schließer, aber wenn du das wirklich willst, musst du mich dereinst mal in der Hölle besuchen.«
»Nein«, widersprach Kohler, während er die Zellentür ins Schloss fallen ließ. »Wir sehen uns wieder, weil ich weiß, dass du erneut hier landen wirst.«
*
Keine fünf Minuten nach dem Abschied von Horst Kohler humpelte Rüdiger Bornmann neben einem anderen Justizbeamten her auf eine Bürotür zu. Mit der Linken stützte er sich auf den Stock, in der Rechten hielt er seinen Koffer.
»Herein!«, kam es von der anderen Seite, nachdem er leise und vorsichtig angeklopft hatte.
»Guten Morgen, Frau Direktor«, begrüßte er die Frau hinter dem kleinen Schreibtisch.
»Auch Ihnen einen guten Morgen, Herr Bornmann«, erwiderte sie freundlich. »Kommen Sie doch rein und nehmen Sie Platz.«
Bornmann stellte seinen Koffer neben der Tür ab und humpelte umständlich auf Julia Heinemann, die Leiterin der Justizvollzugsanstalt Kassel I, zu.
»Wie geht es Ihnen?«, wollte sie wissen.
»Na ja, es war schon schlechter. Aber in Anbetracht dessen, was ich heute erleben werde, will ich mich nicht beklagen.«
Die etwa 45-jährige Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und fixierte ihr Gegenüber ein paar Sekunden.
»Ich muss Ihnen sicher nicht noch einmal erklären, dass, sobald Sie die Anstalt verlassen haben, jeder einzelne Ihrer Schritte von Polizisten überwacht wird. Tag und Nacht.«
»Das weiß ich, Frau Direktor«, erwiderte Bornmann mit dem Anflug eines Lächelns, »und ich bin darüber auch alles andere als böse. Obwohl …«
Er zögerte und hob den Stock, der die ganze Zeit in seiner linken Hand geruht hatte.
»Obwohl Sie diesen Job auch ein paar Ausgediente, Gehbehinderte erledigen lassen könnten.«
»Wegen Ihrer Behinderung?«
»Natürlich wegen meiner Behinderung.«
Die Frau ließ sich wieder nach vorn fallen.
»Sie wissen, dass mir das mit Ihrer Behinderung persönlich überaus leidtut, Herr Bornmann. Die ganze Sache damals ist so unglücklich gelaufen, dass …«
Sie brach ab.
»Lassen Sie mal, Frau Direktor. Wenn es nicht in dieser Situation gekommen wäre, dann bestimmt in einer anderen. Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, ganz bestimmt nicht.«
»Danke, aber so was kann man leider nicht an
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