Billard um halbzehn
Rand.
»Und später versuchte ich es anders, verschloß die Tür zu Hause, schob Möbel davor, türmte auf, was ich finden konnte.
Kisten, Gerümpel und Matratzen, bis sie die Polizei alarmierten, und die kam, den Schulschwänzer abzuholen; die umstellte das Haus, schrie: ›Komm raus, du Bengel‹, aber ich kam nicht raus, und sie brachen die Tür auf, schoben die Möbel beiseite, und sie hatten mich, brachten mich in die Schule, auf daß ich weiter geprügelt, weiter in die Gosse gestoßen, weiter Lamm Gottes geschimpft würde; er hatte doch gesagt: weide meine Lämmer, aber sie weideten seine Lämmer nicht, wenn es überhaupt seine
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Lämmer waren. Alles vergebens, Herr Doktor, umsonst weht der Wind, umsonst fä llt der Schnee, umsonst blühen die Bäume und fallen die Blätter - sie essen Kartoffeln mit Sauce oder Speck mit Kraut.
Manchmal war sogar meine Mutter zu Hause, betrunken und schmutzig, roch nach Tod, dunstete Verwesung aus und schrie: wozuwozuwozu, schrie es öfter als alle Erbarme dich unser in allen Litaneien; es machte mich wahnsinnig, wenn sie so stundenlang wozuwozuwozu schrie, und ich lief weg, ein nasses Gotteslamm, lief durch den Regen, hungrig, Lehm klebte mir an den Schuhen, am Körper, ganz eingepackt in nassen Lehm war ich, hockte da auf ihren Rübenfeldern, aber ich lag lieber in lehmigen Furchen, ließ den Regen auf mich regnen, als dieses schreckliche Wozu zu hören, und irgendwer erbarmte sich meiner, irgendwann, brachte mich nach Hause, in die Schule zurück, heim in dieses Nest, das Denklingen hieß, und sie schlugen mich wieder, riefen mich Lamm Gottes, und meine Mutter betete ihre endlose, schreckliche Litanei: Wozu?, und ich lief wieder weg, und wieder erbarmten sie sich meiner, und diesmal brachten sie mich in die Fürsorge. Dort kannte mich niemand, keins von den Kindern, keiner von den Erwachsenen, aber ich war noch nicht zwei Tage in der Fürsorge, nannten sie mich auch dort Lamm Gottes, und ich bekam Angst, obwohl sie mich nicht schlugen: sie lachten nur über mich, weil ich so viele Worte nicht kannte; das Wort Frühstück; ich kannte nur: Essen, irgendwann, wenn etwas da war oder ich etwas fand; aber als ich auf der Tafel las: Frühstück 30 Gramm Butter, 200 Gramm Brot, 50 Gramm Marmelade, Milchkaffee, fragte ich einen:
›Was ist das, Frühstück?‹ Und sie umringten mich alle, auch die Erwachsenen kamen, sie lachten und fragten: ›Frühstück, weißt du nicht, was das ist, hast du denn noch nie gefrühstückt?‹
›Nein‹, sagte ich. ›Und in der Bibel‹, sagte der eine Erwachsene,
›hast du da nie das Wort Frühstück gelesen?‹, und der andere Erwachsene fragte den einen: ›Sind Sie so sicher, daß in der
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Bibel das Wort Frühstück überhaupt vorkommt?‹ ›Nein‹, sagte der eine, ›aber irgendwo, in irgendeinem Lesestück oder zu Hause, muß er doch das Wort Frühstück einmal gehört haben, er ist doch bald dreizehn, das ist schlimmer als bei Wilden; jetzt kann man sich eine Vorstellung vom Ausmaß des Sprachzerfalls machen. ‹ Und ich wußte nicht, daß Krieg gewesen war, vor kurzer Zeit, und sie fragten mich, ob ich denn nie auf einem Friedhof gewesen sei, wo auf den Grabsteinen stand: ›Gefallen‹, und ich sagte, doch, das hätte ich gesehen, und was ich mir denn unter ›gefallen‹ vorgestellt hätte, und ich sagte, ich hätte mir vorge stellt, die dort beerdigt seien, wären tot umgefallen; da lachten sie noch mehr als bei dem Frühstück, und sie gaben uns Geschichtsunterricht, vom Anfang der Zeiten an, aber bald war ich vierzehn, Herr Doktor, und der Hoteldirektor kam ins Heim, und wir vierzehnjährigen Jungen mußten uns auf dem Flur vor dem Zimmer des Rektors aufstellen, und der Rektor kam mit dem Hoteldirektor. Und sie gingen an uns vorbei, blickten uns in die Augen und sagten beide, sagten wie aus einem Munde:
›Dienen, wir suchen Jungen, die dienen können‹, aber sie suchten nur mich heraus. Ich mußte sofort meine Sachen in einen Karton packen und fuhr mit dem Hoteldirektor hierher, und er sagte im Auto zu mir: ›Hoffentlich erfährst du nie, wieviel dein Gesicht wert ist. Du bist ja das reinste Lamm Gottes‹, und ich hatte Angst, Herr Doktor, habe sie immer noch und warte immer darauf, daß sie mich schlagen.«
»Schlagen sie dich?«
»Nein, nie. Nur möcht ich so gern wissen, was der Krieg war, ich mußte ja aus der Schule weg, bevor sie es mir erklären konnten. Kennen Sie den Krieg?«
»Ja.«
»Haben Sie
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