Billard um halbzehn
Traum, auf Moorwegen geträumt, zwei Jahre lang, bis der Blutsturz ihn überschwemmte und an dunkle Ufer trug; ein Quartheft mit Versen blieb, ein schwarzer Anzug, dem Patensohn vererbt, zwei Goldstücke, und am grünlichen Vorhang des Schulzimmers ein Blutflecken, den die Frau seines Nachfolgers nicht zu entfernen vermochte; ein Lied, von Kinderlippen dem hungrigen Lehrer am Grab gesungen:
›Türmer, wohin ist die Schwalbe entflohen?‹
Noch einmal zurückgeblickt auf den Bahnhof, noch einmal das Plakat betrachtet, das, für einrückende Rekruten deutlich sichtbar, neben der Sperre hing: ›Militärpflichtigen empfehle ich meine seit langen Jahren eingeführten echten Normal-Unterzeuge, System Professor Gustav Jäger, meine echten Pallas-Unterzeuge, patentiert in allen Kulturstaaten, meine echte Reform- Unterkleidung, System Dr. Lahmann.‹ Es war Zeit, den Tanz zu beginnen:
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Ich überquerte die Straßenbahngleise, ging am Hotel Prinz Heinrich vorbei, über die Modestgasse, zögerte einen Augenblick, bevor ich ins Cafe Kroner trat: die Glastür, innen mit grüner Seide bespannt, zeigte mir mein Bild: zart war ich, fast klein, sah aus wie etwas zwischen jungem Rabbiner und Bohemien, schwarzhaarig und schwarzgekleidet, mit dem unbestimmbaren Air ländlicher Herkunft; ich lachte noch einmal und öffnete die Tür; gerade fingen die Kellner an, Blumenvasen mit weißen Nelken auf die Tische zu stellen, rückten in grünes Leder gebundene Speisekarten zurecht, Kellner in grünen Schürzen, schwarzen Westen, mit weißen Hemden und weißen Krawatten; zwei junge Mädchen, rosig und blond die eine, blaß und schwarzhaarig die andere, schichteten vorne am Kuchenbüfett Kekse auf, türmten Bisquits, erneuerten Sahneornamente, rieben silberne Kuchenschaufeln blank. Kein Gast zu sehen, sauber war's drinnen wie im Krankenhaus vor der Chefarztvisite, Kellnerballett, durch das ich als Solist jetzt mit leichten Schritten hindurchging; Komparserie und Kulissen standen für mich bereit; das war Dressur, war ausgezeichnet und gefiel mir, wie die drei Kellner von Tisch zu Tisch gingen, mit abgezirkelten Bewegungen: das Salzfaß hingestellt, die Blumenvase, ein kleiner Ruck für die Speisekarte, die offenbar in einem bestimmten Winkel zum Salzfaß zu liegen hatte; Aschenbecher, schneeweißes Porzellan mit goldenem Rand; gut; das gefiel mir; ich war angenehm überrascht, das war Stadt, hatte ich noch in keinem der Nester gesehen, in denen ich gehockt hatte.
Ich ging in die äußerste linke Ecke, warf meinen Hut auf den Stuhl, Zeichenblock und Etui daneben, setzte mich; die Kellner kamen aus Richtung Küche zurück, schoben lautlos Teewagen vor sich her, verteilten Sauceflaschen, hängten Zeitungshalter auf; ich öffnete meinen Zeichenblock, las - zum wievielten Mal?
- den Zeitungsausschnitt, den ich auf die Innenseite des Deckels geklebt hatte: ›Öffentliche Ausschreibung, Neubau einer
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Benediktiner-Abtei, im Tale der Kissa gelegen, zwischen den Weilern Stehlingers Grotte und Görlingers Stuhl, etwa zwei Kilometer vom Dorf Kisslingen entfernt; jeder Architekt, der sich befähigt weiß, ist teilnahmeberechtigt. Unterlagen sind gegen eine Gebühr von 50 (fünfzig) Mark im Notariat Dr. Kilb, Modestgasse 8, erhältlich. Letzter Termin zur Einreichung des Entwurfs: Montag, 30. September 1907, mittags 12 Uhr.‹
Zwischen Mörtelhaufen stieg ich umher, zwischen Stapeln nagelneuer Steine, die ich auf ihre Brennqualität prüfte, schritt an ganzen Gebirgen von Basaltbruch vorüber, die ich zur Einfassung der Türen und Fenster vorgesehen hatte; ich hatte Dreckspuren am Hosenrand, Kalkspritzer auf der Weste; heftige Worte fielen in Bauhütten; waren die Mosaiksteine immer noch nicht geliefert worden, die ich für die Darstellung des Gotteslamms über dem Haupteingang brauchte? Zornausbruch, Skandal; Kredite wurden gesperrt, wieder flüssig; Handwerksmeister standen am Donnerstagnachmittag Schlange vor meiner Bude, Lohngelder für Freitag waren fällig; und abends stieg ich erschöpft in Kisslingen in den überheizten Personenzug, sank in den Polstersitz im Zweite-Klasse-Abteil, wurde in der Dunkelheit durch diese elenden Rübenbauernnester geschleppt, während die schläfrige Schaffnerstimme Stationsnamen ausrief: Denklingen, Dodringen, Kohlbingen, Schaklingen; Rübenberge, im Dunkeln grau wie Berge von Totenköpfen, lagen an Rampen zum Verladen bereit; weiter durch Rübennester, Rübennester; ich fiel am Bahnhof in eine
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