Billard um halbzehn
tief drinnen verborgen; nein, er hatte nie vom Sakrament des Büffels gekostet, und ich hatte Angst, ob er die letzte, allerletzte und schwierigste Probe bestehen würde: Die Uniformprobe, am Geburtstag des Narren, im Januar, Marsch zum Denkmal an der Brücke, Parade vor dem Hotel, wo der General auf dem Balkon stand; wie würde es aussehen, wenn er da unten
vorbeimarschierte, vollgepumpt mit Geschichte und Schicksalsträchtigkeit, während die Pauken und Trommeln dröhnten, die Hörner Attacke bliesen. Ich hatte Angst und fürchtete, er werde komisch aussehen; komisch wollte ich ihn nicht; sie sollten nie über ihn lachen, aber er immer über sie; und ich sah ihn, im Paradeschritt; mein Gott, du hättest ihn sehen sollen: als ginge er mit jedem Schritt über den Kopf eines Kaisers hinweg.
Später sah ich ihn oft in Uniform; die Zeit wurde an Beförderungen ablesbar; zwei Jahre: Oberleutnant, zwei Jahre: Hauptmann; ich nahm mir seinen Degen und erniedrigte ihn, kratzte damit den Dreck hinter den Lamperien heraus, den Rost von eisernen Gartenbänken, grub damit Löcher für meine Pflänzchen; zum Kartoffelschälen war er zu unhandlich. Degen muß man ablegen und mit den Füßen treten, wie alle Privilegien, Junge; dazu allein sind sie da, sind Bestechungen: Voll ist ihre Rechte von Geschenken. Iß, was alle essen; lies, was alle lesen; trage Kleider, die alle tragen; dann kommst du der Wahrheit am nächsten; Adel verpflichtet, verpflichtet dich dazu, Sägemehl zu essen, wenn alle anderen es essen, den patriotischen Mist in den Lokalzeitungen zu lesen, nicht in den Blättern für Gebildete: Dehmel und so; nein, nimm es nicht an, Robert, Gretzens Pasteten, die Butter des Abts, Honig, Goldstücke und
-137-
Hasenpfeffer: wozuwozuwozu, wenn die anderen es nicht haben; die Nichtprivilegierten dürfen getrost Honig und Butter essen, es verdirbt ihnen nicht Magen und Gehirn, aber du nicht, Robert, du mußt dieses Dreckbrot essen: die Augen werden dir übergehen vor Wahrheit, und du mußt diese schäbigen Kleiderstoffe tragen, dann wirst du frei sein. Ich habe nur einmal ein Privileg genutzt, ein einziges Mal, du mußt mir verzeihen; ich konnte es nicht mehr ertragen; ich mußte zu Dröscher gehen, um für dich Amnestie zu erwirken; wir hielten es nicht mehr aus: Vater, ich, Edith, dein Sohn war schon geboren; wir fanden deine Botschaften im Briefkasten, sie waren winzig, so groß nur wie die Schnippel, die an Hustenbonbons herausragten; der erste kam vier Monate, nachdem du verschwunden warst: ›Macht euch keine Sorgen, ich studiere fleißig in Amsterdam. Kuß für Mutter, Robert.‹ Sieben Tage später kam der zweite: ›Ich brauche Geld, gebt's, in Zeitungspapier gewickelt, einem Mann, der Groll heißt, Kellner im ,Anker' am oberen Hafen. Kuß für Mutter, Robert.‹
Wir brachten das Geld hin; stumm servierte der Kellner, der Groll hieß, uns Bier und Limonade, nahm stumm das Paket entgegen, lehnte stumm Trinkgeld ab, schien uns gar nicht zu sehen, unsere Fragen gar nicht zu hören.
Wir klebten deine winzigen Botschaften in ein Notizbuch; lange kam keine, dann kamen sie öfter. ›Geld immer erhalten: 2., 4. und 6. Kuß für Mutter, Robert.‹ Und Otto war auf einmal nicht mehr Otto: ein schreckliches Wunder war geschehen: er war Otto und war's nicht mehr, er brachte Nettlinger und den Turnlehrer mit ins Haus; Otto - ich begriff, was es heißt, wenn sie sagen, daß von einem Menschen nur noch die Hülle übrigbleibt; Otto war nur noch Ottos Hülle, die rasch einen anderen Inhalt bekam; er hatte vom Sakrament des Büffels nicht nur gekostet, er war damit geimpft worden; sie hatten ihm sein altes Blut herausgesogen und ihm neues eingefüllt: Mord war in seinem Blick, und ich verbarg ängstlich die Zettel.
-138-
Monatelang kam kein Zettel; ich kroch im Flur über die Fliesen, suchte jede Ritze ab, jeden Fingerbreit des kalten Bodens, nahm die Lamperien weg, kratzte den Dreck heraus, weil ich fürchtete, die Kügelchen könnten hinter die Lamperie gerutscht, geblasen worden sein; ich schraubte den Briefkasten ab, nahm ihn auseinander, nachts, und Otto kam, drückte mich mit der Tür gegen die Wand, trat mir auf die Finger, lachte: monatelang fand ich nichts; die ga nze Nacht stand ich hinter dem Vorhang im Schlafzimmer, wartete auf das Morgengrauen, bewachte die Straße und die Haustür, rannte hinunter, wenn ich den Zeitungsboten kommen sah; nichts; ich suchte die Brötchentüten ab, goß die Milch vorsichtig in die
Weitere Kostenlose Bücher