Der letzte Joker
1
D er sympathische junge Mann Jimmy Thesiger kam die große Treppe in Chimneys heruntergerannt. Seine Talfahrt vollzog sich so rasant, dass er beinahe mit Tredwell, dem vornehmen Butler, zusammenstieß, als dieser gerade mit frischem Kaffee die Halle durchquerte. Nur Tredwells Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass kein Unglück geschah.
«Verzeihung», entschuldigte sich Jimmy. «Sagen Sie, Tredwell, bin ich etwa der Letzte?»
«Nein, Sir. Mr Wade ist auch noch nicht da.»
«Gut», meinte Jimmy und betrat das Frühstückszimmer. Außer seiner Gastgeberin war niemand im Raum. Ihr vorwurfsvoller Blick erweckte in Jimmy das gleiche Unbehagen, das ihn immer befiel, wenn er einem toten Dorsch in der Auslage eines Fischgeschäfts in die Augen sah. Hol’s der Teufel, warum blickte ihn die Frau überhaupt so an? Pünktlich um neun Uhr dreißig zum Frühstück zu erscheinen, wenn man sein Wochenende in einem Landhaus verbrachte, war einfach nicht zu machen. Mag sein, dass Viertel nach elf, wie eben jetzt, ziemlich spät war, aber trotzdem…
«Ich fürchte, ich bin etwas spät dran, Lady Coote!»
«Oh, das macht gar nichts», erwiderte Lady Coote mit melancholischer Stimme.
In Wirklichkeit hasste sie Leute, die unpünktlich zum Frühstück kamen. In den ersten zehn Jahren ihrer Ehe hatte Sir Oswald Coote, damals noch einfacher Mr Coote, milde ausgedrückt, ein Höllenspektakel veranstaltet, wenn sein Frühstück auch nur eine halbe Minute nach acht Uhr auf dem Tisch stand. Lady Coote war dazu erzogen worden, Unpünktlichkeit als eine der unverzeihlichsten Sünden zu betrachten. Und Gewohnheiten sterben zäh. Außerdem fragte sie sich, was diese jungen Leute je Anständiges leisten wollten, wenn sie nicht früh aufstanden. Sir Oswald hatte es so oft gesagt, zu Reportern und anderen Leuten: «Ich verdanke meinen Erfolg ausschließlich meinem frühen Aufstehen, meinem einfachen Leben und meinen festen Gewohnheiten.»
Lady Coote war eine große, gut aussehende Frau, doch leider etwas aus der Mode gekommen. Sie besaß dunkle traurige Augen und eine tiefe Stimme. Ein Künstler, der nach einem Modell für «Rachel beweint ihre Kinder» suchte, würde sie auf der Stelle engagieren.
Sie sah so aus, als würde sie an einer geheimnisvollen schrecklichen Sorge tragen, obwohl es in ihrem Leben außer Sir Oswalds meteorhaftem Aufstieg überhaupt keine Sorgen gab. Als junges Mädchen war sie ein heiteres, blühendes Geschöpf gewesen, unglaublich verliebt in Oswald Coote, den hoffnungsvollen jungen Mann vom Fahrradgeschäft neben der Eisenwarenhandlung ihres Vaters. Sie hatten sehr glücklich zusammengelebt; erst in ein paar Zimmern, dann in einem kleinen Haus, dann in einem größeren und dann in einer Reihe von immer größer werdenden Villen, aber immer in vernünftiger Entfernung vom «Betrieb», bis Sir Oswald zu derartiger Bedeutung aufgestiegen war, dass er und der «Betrieb» keinen unmittelbaren Kontakt mehr brauchten, und es war ihm ein Vergnügen gewesen, das prächtigste Herrenhaus von ganz England zu mieten. Chimneys war ein historisches Bauwerk, und als er es für zwei Jahre von Lord Caterham übernehmen konnte, fühlte er sich am Ziel seiner Wünsche.
Lady Coote war darüber nicht entfernt so glücklich wie ihr Mann. Sie war eine einsame Frau. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte ihre hauptsächliche Entspannung darin bestanden, mit dem «Mädchen» zu sprechen, und selbst als aus dem «Mädchen» drei geworden waren, war die Unterhaltung mit dem Personal Lady Cootes einzige Ablenkung gewesen. Jetzt, mit einem ganzen Stab von Hausmädchen, einem Butler mit der Würde eines Erzbischofs, einer Reihe von allerlei Bediensteten, einem Schwarm flinker Küchen- und Spülmädchen, einem Furcht einflößenden fremden Küchenchef mit «Launen» und einer riesenhaften Haushälterin, die stöhnte und ächzte, wenn sie sich nur bewegte, kam sich Lady Coote wie auf einer einsamen Insel ausgesetzt vor.
Jetzt seufzte sie tief und rauschte durch die offene Terrassentür hinaus, sehr zur Erleichterung von Jimmy Thesiger, der sich sofort noch mehr Nieren mit Speck nahm.
Lady Coote blieb einige Minuten in tragischer Pose auf der Terrasse stehen, bevor sie sich dazu aufraffte, MacDonald, den Obergärtner, anzusprechen, der autoritär über das Gebiet, das ihm unterstellt war, herrschte. MacDonald war der Kaiser aller Obergärtner. Er kannte das Reich, das er zu regieren hatte, und er regierte es despotisch.
Lady Coote
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