Billard um halbzehn
Kasserolle, löste das Etikett: nichts. Und wir gingen abends in den Anker, drückten uns an Uniformen vorbei, in die hintere Ecke, wo Groll bediente; aber der blieb stumm, schien uns nicht zu kennen; erst nach Wochen, nachdem wir Abend für Abend da gesessen und gewartet hatten, schrieb er auf den Rand des Bierdeckels:
›Vorsicht! Ich weiß nichts!‹, schüttete Bier um, verwischte alles zu einem großen Tintenstiftklecks, brachte neues Bier, das er nicht bezahlt haben wollte; Groll, der Kellner im Anker; er war jung, hatte ein schmales Gesicht.
Und wir wußten natürlich nicht, daß der Junge, der die Zettelchen in unseren Briefkasten geworfen hatte, längst verhaftet war; daß wir bespitzelt wurden und Groll nur deshalb noch nicht verhaftet, weil sie hofften, er werde nun doch mit uns zu sprechen anfangen; wer kennt schon diese höhere Mathematik der Mörder; Groll, der Junge mit den Zettelchen, verschwunden beide, Robert - und du gibst mir kein Gewehr, erlöst mich nicht aus diesem verwunschenen Schloß.
Wir gaben die Besuche im Anker auf, fünf Monate nichts gehört; ich konnte nicht mehr, nahm zum ersten Mal Privilegien an, ging zu Dröscher, Dr. Emil, Regierungspräsident; ich war mit seiner Schwester zur Schule gegangen, mit ihm in die Tanzstunde; wir hatten Landpartien gemacht, Bierfässer auf
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Kutschen geladen, Schinkenbrote am Waldrand ausgepackt, hatten auf frischgemähten Wiesen Ländler getanzt, und mein Vater hatte dafür gesorgt, daß sein Vater, obwohl er nicht Akademiker war, in den Akademikerbund aufgenommen wurde; Quatsch, Robert - glaub nicht an so was, wenn's um ernste Dinge geht; ich hatte Dröscher ›Em‹ genannt, das war eine Abkürzung für Emil, die damals als schick galt, und ließ mich nun, dreißig Jahre danach, bei ihm melden, hatte mein graues Kostüm angezogen, den violetten Schleier am grauen Hut, schwarze Schnürschuhe an; er holte mich selbst aus dem Vorzimmer, küßte mir die Hand, sagte: ›Ach, Johanna, sag doch noch mal Em zu mir‹, und ich sagte: ›Em, ich muß wissen, wo der Junge ist. Ihr wißt es doch!‹ Das war, als wenn die Eiszeit ausgebrochen wäre, Robert. Ich sah ihm gleich an, daß er alles wußte, spürte auch, wie er förmlich wurde, ganz spitz; da wurden die wulstigen Rotweintrinkerlippen ganz dünn vor Angst; und er blickte sich um, schüttelte den Kopf, flüsterte mir zu: ›Das war nicht nur verwerflich, was dein Junge getan hat, es war auch politisch sehr unvernünftig.‹ Und ich sagte: ›Wohin politische Vernunft führt, das sehe ich an dir.‹ Ich wollte gehen, aber er hielt mich zurück und sagte: ›Mein Gott, sollen wir uns denn alle aufhängen?‹, und ich sagte: ›Ja, ihr ja.‹ ›Sei doch vernünftig‹, sagte er, ›solche Angelegenheiten sind Sache des Polizeipräsidenten, und du weißt ja, was er dem getan hat.‹ ›Ja‹, sagte ich, ›ich weiß, was er dem getan hat: nichts. Leider nichts.
Er hat ihm nur fünf Jahre lang sämtliche Schlagballspiele gewonnen.‹ Da biß sich der Feigling auf die Lippen und sagte:
›Sport - mit Sport ist immer was zu machen.‹
Wir hatten ja damals noch keine Ahnung, Robert, daß eine Handbewegung das Leben kosten kann; Wakiera ließ einen polnischen Kriegsgefangenen zum Tode verurteilen, weil er die Hand gegen ihn erhoben hatte; nur die Hand erhoben, nicht mal zugeschlagen hatte der Gefangene.
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Und dann fand ich eines Morgens auf meinem
Frühstücksteller einen Zettel von Otto: ›Ich brauche auch Geld -
12 - ihr könnt es mir bar übergeben.‹ Und ich ging ins Atelier hinüber, nahm zwölftausend Mark aus dem Geldschrank - sie lagen da bereit für den Fall, daß mehr Zettel von dir kämen -
und warf Otto den Packen auf den Frühstückstisch; ich wollte schon nach Amsterdam kommen und dir sagen, du solltest keine Zettel mehr schicken: sie kosten jemand das Leben. Aber nun bist du ja hier; ich wäre verrückt geworden, wenn sie dich nicht amnestiert hätten, bleib hier; ist es nicht gleichgültig, wo du lebst, in einer Welt, wo eine Handbewegung dich das Leben kosten kann? Du kennst die Bedingungen, die Dröscher für dich ausgehandelt hat: keine politische Betätigung und nach dem Examen sofort zum Militär; das Abitur nachholen, das hab ich schon vorbereitet, und Klähm, der Statiker will dich prüfen und dir so viele Semester erlassen, wie er eben kann; mußt du unbedingt studieren? Gut, wie du willst - und Statik? Warum?
Gut, wie du willst; Edith freut sich. Geh doch zu
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