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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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anschwillt, nach allen Seiten wächst, wie sie immer mehr wird, wie sie langsam den ganzen Körper ausfüllt und einen nachts nicht schlafen lässt. Die Erinnerung ist alles, was ich habe, sagte Lena. Die Erinnerung ist wie eine endlose Datenbank, in der jedes winzige Detail in einem chaotischen Zusammenhang mit vielen anderen winzigen Details steht. Es ist mir sehr wichtig, sie alle im Auge zu behalten, mich an alles gleichzeitig zu erinnern. Deshalb kann ich nachts nicht schlafen. Ich brauche nur die Augen zu schließen, und schon setzt sich irgendein Erinnerungsmechanismus in Gang. Meine Gedanken springen von einer Erinnerung zur nächsten. Manchmal habe ich Angst, von dieser Reise nie wieder zurückzukehren.
    Keine Angst, sagte Pawlo, der Yogi, zu Lena. Du kommst garantiert zurück. Und fügte hinzu: Du musst lernen, zu vergessen. Erinnerungen binden dich an die Welt, und du weißt ja, dass die Welt zu wenig angenehm ist, um für immer in ihr zu verweilen.
    Ich weiß nicht mehr, welche Augenfarbe du hast, antwortete Lena etwas zusammenhanglos. Aber ich weiß noch, wie Mamas Tasche ausgesehen hat, mit der sie immer zur Schokofabrik gegangen ist, als ich fünf war. Drehe ich durch?
    Pawlo, der Yogi, war gerade dabei, seine Schule für östliche Praktiken zu eröffnen. Lena arbeitete weiterhin im »Goldfisch«. Sie sagte, ihr gefalle dieses beschwipste Aquarium. Manchmal würden da wirkliche Prachtexemplare vorbeischwimmen.
    Einmal lernte sie in der Bar zum Beispiel einen Förster aus den nahe gelegenen Bergen kennen, der in die Stadt gekommen war, um einem Wellnesshotel für zweihundert Dollar ein Grundstück zu verkaufen. Für dieses Geld feierte er drei Tage lang ohne Verschnaufpause. Er trank nur Whisky.
    »Wieso sollte ich heute Selbstgebrannten trinken?!«, sagte er zu Lena, während er die Flasche mit dem bernsteinfarbenen Inhalt umarmte. »Einmal im Leben hab ich’s mir verdient. Whisky ist der Alkohol der Bergmenschen.«
    »Sind Sie wirklich Förster?«, fragte Lena.
    »Wirklicher geht’s nicht! Ich förstere schon seit fünfzig Jahren! Ich kenne jeden Baum und jeden räudigen Fuchs!«
    »Und haben Sie auch schon mal Fasane gesehen?«
    »Warum sollte ich keine gesehen haben? Sicher hab ich welche gesehen. Eine ganze Fasanenfamilie hab ich gesehen. Nur, ich sag’s dir ehrlich, viel zum Schauen gibt’s da nicht. Das Männchen, ja, das ist schön anzusehen, ein Haufen bunter Farben, eine goldene Brust. Aber das Weibchen? Ein ganz normales Huhn ist das, so graubraun, schaut eher dümmlich drein. Manchmal kommen sie alle zusammen raus zum Picken, das Männchen, das Weibchen und drei Fasanenkinder. Ich hab sie nicht nur gesehen, ich hab sie sogar gegessen!«
    Der Förster schenkte sich Whisky nach. Er war ein kleiner Mann, aber sehr beherzt – voll von geradezu krankhaft unerschöpflicher Energie. Ein gutmütiger Zwerg, der aus dem Traum eines Wahnsinnigen entflohen ist, sagte Lena später über ihn.
    Der Förster hörte auf den Namen Marussetschko. Übrigens hat eine angesehene Kiewer Zeitung vor Kurzem über ihn berichtet. Der Artikel heißt »Der letzte Bisonhirte«.
    »Aber das ist nichts gegen die Bisons, die ich gesehen habe!«, erzählte Marussetschko Lena an jenem Abend.
    »Bisons?«
    »So wilde Kühe.«
    »Ich weiß, ich hab sie mal im Fernsehen gesehen.«
    »Ich habe sie aber in der freien Wildbahn beobachtet, so wie dich jetzt! Ich habe sie gehütet!«
    Es ist immer noch unklar, ob Marussetschko gelogen oder die Wahrheit gesagt hat. Sein Name war allen landesweiten Fernsehsendern und halbwegs auflagenstarken Zeitungen bekannt. Zehn Jahre lang bombardierte er die Medien und das Forstwirtschaftsministerium mit Briefen, die immer gleich anfingen: »Hilfe! Die Wälder werden gerodet! Alle Tiere werden erschossen!« Doch keiner dieser Briefe wurde je beantwortet.
    Zu Lena sagte er:
    »Schon in Ordnung, steter Tropfen höhlt den Stein. Wir sind ein demokratisches Land. Ich habe die Verfassung gelesen und kenne meine Rechte und Pflichten. Ich kämpfe nur mit legalen Mitteln! Ich schreibe Briefe, wo ich nur kann! Den Marussetschko kennt schon jeder, in allen Ämtern. Den Journalisten schreibe ich, dass sie kommen sollen und den Leuten die Wahrheit zeigen.«
    »Und, sind sie gekommen?«
    »Bis jetzt noch nicht, aber die kommen schon noch! Ich werde ihnen dann einen richtigen Thriller erzählen! Alles werde ich denen sagen! Wie sie den Wald abholzen, wie sie Steine aus dem Fluss für den Bau ihrer

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