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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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der Bürger als zutiefst beleidigend. Nach dem Motto: »Die Regierung ist allein schon deswegen schuld, weil sie die Regierung ist. Die Regierung stiehlt und bereichert sich nur.« Sie und ich wissen aber, wie absurd und ohne Wahrheitsgehalt diese Beschuldigungen sind.
    Später holte ich Erkundigungen ein und konnte in Erfahrung bringen, dass die Bürgerin L. aus zerrütteten familiären Verhältnissen stammt. Ihre Eltern sind geschieden. Im Kleinkindalter erlitt sie ein seelisches Trauma. Ihre Erzieherin kam vor ihren Augen tragisch ums Leben. L.’s beste Freundin heiratete mit 15 Jahren! Sie werden mir vermutlich zustimmen, wenn ich sage, dass alle diese Umstände auch über L. selbst einiges aussagen. Die Universität schloss sie aus unbekannten Gründen nicht ab, obwohl sie dort einen staatlich finanzierten Studienplatz hatte, den sie vermutlich über Beziehungen erhielt. Der Dekan der Fakultät teilte mir in einem persönlichen Gespräch mit, dass L. eine verantwortungslose Studentin war. Ihre gleichgültige Haltung, die für die junge Generation von heute typisch ist, oder aber ein Mangel an geistigen Fähigkeiten seien der Grund dafür gewesen. Das sage nicht ich, sondern der Fakultätsdekan – ein angesehener und kompetenter Mann.
    Und jetzt konkreter zum besagten Fall.
    Die Bürgerin L. trat Anfang März dieses Jahres zum ersten Mal auf dem Platz vor der Stadtverwaltung in Erscheinung und begann ihre nicht bewilligte Einpersonendemonstration. Sie hatte die bereits erwähnte Schulfreundin – die ja als Fünfzehnjährige geheiratet hatte – mitgebracht. Infolge eines tragischen Unfalls kann das Mädchen heute nicht mehr gehen. Die Bürgerin L. hatte ihre behinderte Freundin, die sie einfach »Hund« nannte – lassen Sie sich das einmal auf der Zunge zergehen! –, dabei und setzte sie auf das kalte Podest des Denkmals, welches zum dekorativen Ensemble des Mychajlo-Hruschewskyj-Platzes gehört. Wir wissen nicht, ob die Behinderte ihre Einwilligung zu solchen Handlungen gab. Eventuell stecken hier ebenfalls verbrecherische Absicht und häusliche Gewalt dahinter. Ich habe bereits die Strafverfolgungsbehörden kontaktiert, um das zu klären. Die Behinderten werden in unserer Region übrigens am häufigsten zu Opfern von häuslicher Gewalt, da sie nicht in der Lage sind, sich zu wehren.
    Mich interessiert nur eines: Warum ist die Bürgerin L. nicht gleich zu mir gekommen? Warum musste sie sofort zu radikalen Maßnahmen übergehen und eine Demonstration vor der Stadtverwaltung inszenieren, ohne einen Tag vorher mit jemandem darüber gesprochen zu haben? Ich versichere Ihnen, Herr Taras, dass ich immer eine Lösung finde. Mein einziges Verschulden besteht darin, dass ich nicht die geringste Ahnung von den Forderungen der Bürgerin L. hatte.
    Auf ihrem Plakat stand »Sie behaupten, sie ist kein Krüppel!«.
    Wer behauptet das denn, Herr Taras?! Man sieht doch mit bloßem Auge, dass Iwanka – so heißt das behinderte Mädchen – nicht gehen kann. Nach einem Gespräch hätten wir umgehend eine Möglichkeit gefunden, ihr zu helfen. Allerdings verstehe ich als Mitarbeiterin eines sozialen Dienstes immer noch nicht, warum wir überhaupt mit der Bürgerin L. hätten reden sollen? In welchem Verhältnis steht sie zu der Betroffenen? Ist sie ihre Schwester? Ihre Schwägerin? Woher sollen wir wissen, welches persönliche Interesse sie verfolgte? Vielleicht wollte L. ja mithilfe der Vergünstigungen ihrer behinderten Freundin eine verbrecherische Tätigkeit aufnehmen. Ehrlich gesagt, habe ich mittlerweile so gut wie keinen Zweifel mehr daran.
    Mehrere Wochen lang blieb L.’s Demonstration ohne Beachtung. Das ist natürlich untragbar. Derartige Kundgebungen schädigen das Ansehen der Stadtregierung und untergraben das Vertrauen ihr gegenüber. Ich habe nur aus einem einzigen Grund keine dringenden Maßnahmen ergriffen: ich wurde über diese Demonstration nicht in Kenntnis gesetzt. Wie Sie selbst aus eigener Erfahrung wissen – wenn man von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends mit Arbeit eingedeckt ist, ist es schwierig, alles im Auge zu behalten.
    Die entscheidende Rolle spielten in dieser Geschichte die Journalisten. So eine himmelschreiende Unprofessionalität hat die Stadt noch nicht erlebt! Anstatt zu mir zu kommen und mich zu fragen, was los sei, anstatt beide Konfliktparteien zu Wort kommen zu lassen und den Lesern und Zuschauern selbst die Entscheidung zu überlassen (wie es in der zivilisierten Welt für

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