Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Journalisten allgemein üblich ist!), zogen diese Menschen es vor, sich auf die lügnerischen Aussagen dieser unberechenbaren Frau zu beschränken und brachten Tausende von Bürgern gegen uns auf.
Sie wissen ja, wie das Ganze anfing. Da gab es diesen leidigen Zeitungsartikel und ein Titelbild. Zwei junge Frauen stehen, von feuchtem Schnee berieselt, auf dem menschenleeren Platz vor der Stadtverwaltung. In ihren klammen Händen halten sie ein Plakat, auf dem nichts mehr zu erkennen ist. Darüber in Blockbuchstaben die Überschrift: »Die Gleichgültigkeit unserer Zeit: Sterben ist besser als Überleben«. Ich habe keinen Zweifel, dass dieses Foto der eigentliche Auslöser war. Ein wirklich sehr anschauliches Beispiel dafür, wie man das öffentliche Bewusstsein manipulieren kann. Da nahm ich diese Kundgebung zum ersten Mal wahr. Die Menschen standen vor dem Haupteingang der Stadtverwaltung. Sie hatten keine Plakate, keine Parolen, gar nichts. Sie standen einfach schweigend da. Das war fast schon unheimlich.
Deshalb kannte ich mich zuerst nicht aus. Ich wusste nicht, was da los war. Verstehen Sie mich bitte, ich musste zuerst den Grund für die öffentliche Unzufriedenheit herausfinden, um zu entscheiden, wie ich weiter agieren sollte. Nach dreizehn Jahren meiner Tätigkeit weiß ich mittlerweile genau, dass man es der Öffentlichkeit nicht recht machen kann. Sie will immer mehr. Deshalb wartete ich erst einmal ab. Ich dachte, die unangemeldete Demonstration würde sich am nächsten Tag auflösen. Ich gebe zu, das war eine Fehleinschätzung. Am nächsten Tag versammelten sich noch mehr Menschen auf dem Platz. Es kamen mehr Behinderte: auf Krücken, in Rollstühlen, auf Rollliegen, und einige im Kinderwagen. Die Journalisten stürzten sich natürlich alle auf die Sensation wie die Aasgeier – mit ihren Kameras, mit der allerneuesten Technik – mir läuft’s immer noch kalt den Rücken runter, wenn ich nur daran denke.
Und dann erst diese ganzen Reportagen im Fernsehen! »San Franciscos Aufstand gegen die Ungerechtigkeit«, »Die Behinderten von San Francisco treten in Hungerstreik«, »Der Kampf um den Rollstuhl geht weiter«. Schrecklich! Seit der Orangenen Revolution habe ich keinen solchen Menschenauflauf in der Stadt mehr erlebt.
Dann bekam ich einen Direktanruf aus Kiew, aus dem Ministerium. In nicht sehr höflicher Form wurde mir mitgeteilt, dass ich die Demonstration so schnell wie möglich auflösen solle. Zusammen mit meinen beiden Stellvertretern bin ich zu den Demonstranten rausgegangen. Ich sagte zu ihnen: »Was wollen Sie eigentlich? Was sind Ihre Forderungen?« Die Menge fing dann an, mir Beleidigungen und unverschämte Korruptionsvorwürfe an den Kopf zu werfen. Das ist das wahre Gesicht des Protests. Die Leute wissen selbst nicht, was sie wollen. Sie wollen einfach nur Dampf ablassen. Taras Mykolajowytsch, Sie wissen ja, wie das ist, wenn man im Leben nicht weiterkommt. Wer ist schuld? Richtig: der Staat. Wer ist schuld, wenn irgendwas nicht so läuft, wie man will? Der Staat natürlich. Der Staat ist immer schuld.
Es war mir nicht möglich, mit den Demonstranten ein vernünftiges Gespräch zu führen. Deshalb ging ich nach Feierabend noch zu diesem behinderten Mädchen nach Hause, an ihre Meldeadresse. Das Mädchen selbst war nicht dort anzutreffen, dafür unterhielt ich mich mit ihren Eltern. Das sind anständige und fleißige Leute. Sie haben viele Kinder und leben in bescheidenen Verhältnissen. Sie wursteln sich halt durch, so gut es geht, um die Kinder großzuziehen und ihnen einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. So wie wir alle.
Ich redete hauptsächlich mit Frau Maria, der Mutter des behinderten Mädchens. Sie ist eine arbeitsame, ruhige Frau. Ich erklärte ihr, dass alles, was mit ihrer Tochter passiert ist, die Folge eines furchtbaren Missverständnisses auf beiden Seiten ist, dass der Staat sich um seine Bürger kümmert und dass wir unser Möglichstes tun werden, um alles wiedergutzumachen. Ich sagte zu Frau Maria, dass der Staat von Rechts wegen keine Verhandlungen mit der Bürgerin L. führen muss und darf, da sie in keinem Verwandtschaftsverhältnis zu ihrer Tochter steht. Die gesetzlichen Sorgeberechtigten seien Iwankas Eltern, ihre Familie, also die Menschen, denen wirklich etwas an ihr liegt. Frau Maria stimmte mir dahingehend zu. Sie gab zu, dass sie L. nie leiden konnte und ebenfalls längst psychische Störungen bei ihr vermutet hatte. Wie auch ich, begann sie daran
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