Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
feststellen. Heutzutage will jeder alles haben. Alle sind nur damit beschäftigt, haben zu wollen. Die Oma hingegen freute sich schon, dass sie gesund und nicht bettlägerig war.
Sie besaß keine Zähne mehr, und wenn sie manchmal Heißhunger auf saure Gurken verspürte, raspelte sie eine auf der feinen Reibe und schlang sie wie einen Brei hinunter. Ihre Wünsche waren sehr bescheiden, und wenn sie nicht in Erfüllung gingen, machte sich Oma nicht viel daraus.
Lenas Großvater war da ganz anders. Er hatte Wünsche, aber um bei der Wahrheit zu bleiben, eigentlich nur zwei: trinken und rauchen. Diese Wünsche waren so bestimmend, dass er sich, als Gott aufgehört hatte, sie zu erfüllen, rächte und aufhörte, an ihn zu glauben.
Großvater lag hilflos in seinem dunklen Zimmer, ohne Schnaps und ohne Zigaretten, und sah Dämonen.
Da schwor sich Lena, niemals etwas zu sehr zu wünschen, denn diesen Ungeheuern wollte sie auf keinen Fall begegnen.
Lena betete viele Jahre lang jeden Morgen und jeden Abend. Wenn sie aus irgendeinem Grund einmal darauf vergaß, machte sie sich die allergrößten Vorwürfe und hatte furchtbare Angst vor Bestrafung. Sie dachte: Das war’s dann, jetzt kann ich mir am Sonntag kein Eis mehr kaufen oder ich mache einen Fehler beim Ukrainisch-Test und bekomme nur ein »Gut«. Oder ich stolpere irgendwo in eine Pfütze, und die ganze Stadt wird über mich lachen.
Der Omagott konnte alles sehen und verzieh nichts. Er saß in Lena drinnen und bekam alles mit, was sie so tat und dachte, und wenn etwas Schlimmes dabei war, ereilte sie immer die wohlverdiente Strafe.
Lena verlor ihre Lieblingshandschuhe, weil sie ihrer Mutter nicht beim Aufräumen helfen wollte. Lena begriff nicht, wie der Winkelmesser funktioniert, weil sie am Abend zuvor in Gedanken »Blödmann« und »wenn ich groß bin, zahl’ ich’s dir heim« zu ihrem Vater gesagt hatte.
Auf diese Weise hing alles mit allem zusammen. Das Prinzip von Ursache und Wirkung funktionierte wie eine Rechenmaschine. Demütig akzeptierte Lena ihre Strafen und sündigte auf ihre kindliche Art weiter.
»Es war so eine Art Spiel«, schrieb sie später. »Mein Kindheitsgott und ich zwinkerten einander gegenseitig zu: wie du mir, so ich dir. So waren wir beide weniger allein.«
Doch eines Tages, ungefähr mit dreizehn, konnte Lena beim allabendlichen Gebet plötzlich nichts mehr fühlen – weder Angst vor Bestrafung noch Dankbarkeit für ihre Existenz. Ihr war, als hätte jemand ihren geborgten Kindheitsgott von der Wand genommen und als klaffte an seiner Stelle nun ein riesengroßes schwarzes Loch, das nicht verdeckt werden konnte. Das Spiel war aus, die beiden waren nun, jeder für sich, auf sich allein gestellt. Mach, was du willst, sündige, so viel du kannst – Böses bleibt ohne Strafe, Gutes wird nicht belohnt.
Lena hörte mit dem Beten auf, doch nichts geschah. Der Boden unter ihren Füßen tat sich nicht auf. Ein paarmal ertappte sie sich dabei, wie sie in Gedanken vor sich hersagte: Lieber Gott, vergib mir, dass ich nicht zu dir bete. Es bedeutete so viel wie: Lieber Gott, vergib mir, dass ich nicht an dich glaube.
Später wurde Lena bewusst, wie absurd diese Worte waren. Von da an rechtfertigte sie sich gar nicht mehr. Rein äußerlich war ihr Leben nicht anders als zuvor. Außer vielleicht, dass sie gelegentlich versuchte, den Lehrern in der Schule zu beweisen, dass es keinen Gott gab, weil sie ihn nicht sehen konnte.
Der sogenannte »gesellschaftliche« Gott, falls so einer überhaupt existiert, verhielt sich ebenfalls sehr merkwürdig und erweckte bei Lena kein Vertrauen. Menschen, die siebzig Jahre lang nur an die strahlende sozialistische Zukunft geglaubt hatten, rannten auf einmal alle gleichzeitig in die aus dem Boden gestampften Kirchen, um sich zu verneigen. Die Kirchen sahen von außen alle gleich aus und auch drinnen ließ sich nicht zweifelsfrei feststellen, welchem Bekenntnis und welcher Nationalität der dortige Gott angehörte und wie viel man ihm für das Seelenheil zahlen musste. Die Vielgötterei erfreute sich großer Beliebtheit. Es gab russische, ukrainische, orthodoxe, griechisch- und römisch-katholische, protestantische, baptistische und evangelikale Götter, Götter der Siebenten-Tags-Adventisten und der Krieger des Himmlischen Königreichs.
Im jüngsten Sozialwohnbaubezirk, dem letzten seiner Art, dort, wo Lena aufwuchs, standen auf einmal fünf neue Kirchen verschiedener Konfessionen. Die einen gingen dahin,
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