Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Doch dann sieht sie das geöffnete Oberlicht. Sie fliegt aus dem Zimmer und freut sich: »Gott sei Dank, ich bin gerettet, ich bin frei!« Doch auf der anderen Seite des geöffneten Fensters findet sie sich in einem ebensolchen Zimmer wieder, mit einem weiteren Fleischwolf, der genauso arbeitet.
Lena hatte so große Angst vor dem Fleischwolf aus Baba Lidas Albträumen, dass sie anfing, selbst davon zu träumen. Baba Lida beschwichtigte sie:
»Du brauchst keine Angst zu haben. Du hast Familie, bist gut in der Schule. Du wirst es viel besser haben als ich.«
Lena löffelte Baba Lidas Rosenmarmelade und nickte.
»Ich habe lauter Einsen«, sagte sie, »aus mir kommt mal was ganz Großes raus.«
»Schau, dass du die Baba Lida nicht vergisst, wenn aus dir mal was ganz Großes wird.«
»Ich vergess’ dich nicht! Ich komme dich besuchen!«
Mit der Zeit ähnelte Baba Lida immer mehr einer guten Märchenhexe. Lena besuchte sie einmal pro Jahr, manchmal auch einmal in zwei Jahren. Sie redeten immer über »Hochgeistiges«, vermutlich deshalb, weil Menschen, die nur die Niederungen kennen, gerne träumen.
Irgendwann vergaß Lena Baba Lida schließlich doch. Sie hatten sich auseinanderentwickelt. Die eine wollte leben, während die andere genug vom Leben hatte und auf etwas anderes wartete.
2 Gott im Himmel und auf Erden
Irgendwann in der siebten Klasse bekam Lena ernsthafte Probleme mit ihrem Glauben.
Jener Gott, zu dem sie brav jeden Morgen und Abend betete, hatte mit einem Mal keine Macht mehr über sie, da Lena ihn einfach nicht mehr ernst nehmen konnte. Lenas Oma erzählte ihr von ihrem Gott. Sie lieh ihn ihrer Enkelin solange, bis Lena einen eigenen Gott fände. Die Oma brachte ihr auch das Beten bei. Sie selbst sprach mit Gott jeden Tag im Morgengrauen und nach Sonnenuntergang. Oma hatte zwei Götter: einer hing in der Sommerküche (ihn mochte Lena lieber) und der andere im Schlafzimmer. Morgens betete Oma zu zweiterem und abends, nach dem Füßewaschen, zu ersterem. Die Zähne putzte sie sich übrigens nie. Lena fand den Grund dafür erst viel später heraus: sie hatte keine mehr.
Lenas Oma wusch sich jeden Abend das Gesicht und die Füße, zog ihr bodenlanges Nachthemd an, stellte sich, dürr wie eine Bohnenstange, mit gefalteten Händen hin und rezitierte das Vaterunser in einer Sprache, die Lena fremd vorkam. Der Anfang war immer gleich und wurde in einem Atemzug auf Altkirchenslawisch ausgesprochen: »Очченашєжиєсінанебесі«. Lena saß daneben auf dem Sofa, wusch sich die Füße nicht, weil sie keine Lust hatte, und lauschte. Sie mochte Omas Gott und nannte ihn »Omagott«. Er war streng, aber gerecht. Er war allmächtig. Eine imposante Erscheinung. Vom Alter her so um die sechzig, was laut Lena das beste Alter für einen Gott war: kein Jungspund mehr, auf den kein Mensch hören würde, und auch kein Greis, also noch nicht verkalkt. Der sechzigjährige Omagott hatte einen langen Rauschebart und einen milden Blick, der sich allerdings auch ändern konnte, je nachdem, wie schwer Lena den Tag über gesündigt hatte.
Sie unterhielt sich oft mit ihm. Für gewöhnlich schlug sie ihm recht abenteuerliche Abmachungen vor, etwa: Wie wär’s, Gott, du gibst mir dieses und jenes, und dafür werde ich immer an dich glauben. Als wäre es Gott nicht egal, ob man an ihn glaubt.
Von Zeit zu Zeit stellte Lena Gott auf die Probe. Dann sagte sie: »Ich lutsche gerade ein Bonbon. Beweis mir, dass es dich gibt, und mach, dass es mir aus dem Mund fällt. Dann werde ich an dich glauben.«
Manchmal fiel das Bonbon tatsächlich auf den Boden.
Lenas Oma hingegen hatte ihre eigenen Vereinbarungen. Sie bat Gott um Gesundheit für Lena und all ihre anderen Enkel und Kinder, ohne etwas dafür zu geben. Sie bat ihn um schönes Wetter oder eine gute Ernte. Sie bat darum, dass die Kuh gut kalben möge und die Schweine aufhören würden, den Boden im Stall zu demolieren. Dass die Kartoffelkäfer das Erdäpfelkraut nicht so unverschämt fressen. Dass das Heu bis zum Frühling reicht. Dass der Großvater weniger trinkt. Dass es Lenas Eltern gut geht und sie endlich das ersehnte Auto kaufen können.
Das Gebet endete immer mit den gleichen Worten: »Ich habe hundertmal gesündigt, vergib mir, Herr.« Diesen Teil konnte Lena nicht verstehen, denn ihre Oma sündigte nie. Sie war ein herzensguter Mensch und begnügte sich mit dem Wenigen, das sie hatte. Solche Menschen gibt es nicht mehr, würde Lena später
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