Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
manikürte Fingernägel hatte (Lenas Mutter versteckte ihre Hände unter dem Tisch), und zwei Töchter, die Lena nie kennenlernte. Die eine studierte in Moskau, die andere in Charkiw. Beide sollten einmal Diplomatinnen werden.
Dann kam ein Jahr, in dem Lenas Onkel zu Ostern nicht erschien. In der Runde machte sich leichte Betretenheit breit, die Wurst blieb im Halse stecken. Jemand rief an und berichtete, der Onkel sei schwer erkrankt. Krebs im Endstadium, keine Heilungschancen.
Seine nette und stille Frau, die selbstredend auch nicht an Gott glaubte, wagte einen verzweifelten letzten Schritt: den ungläubigen Thomas zu einer Heilerin zu bringen, von der es hieß, sie könne Todgeweihte nur mit einem Blick wieder dem Leben zuführen. Der Ungläubige ließ sich, so unwahrscheinlich es klingt, auf das Experiment ein. Offenbar wollte er nicht sterben, denn das, woran er glaubte, verhieß für die Zeit nach seinem Tod nichts Gutes. Die Knochen würden vermodern und Schluss.
Später würde Lena weise anmerken, der Tod sei die größte Schwachstelle im Atheismus.
Ausgezehrt und von seiner Krankheit schwer gezeichnet, fuhr der Onkel beschämt zur Dorfheilerin. Seine Frau und Lenas Vater begleiteten ihn. Letzterer war mitgekommen, um ihn im Fall des Falles zu beschützen.
Die Heilerin war so um die einhundertzwanzig. Sie saß in ihrem Hof und schaute in den Himmel. Die Patienten wurden nach der Reihe zu ihr vorgelassen. Es waren ungefähr fünfzig und die Heilerin brauchte für jeden kaum mehr als ein paar Minuten. Zuerst musste man zehn Dollar in die Kasse einzahlen (ukrainisches Geld wurde nicht akzeptiert), dann stellte die Heilerin eine einzige Frage, die allerdings nichts mit dem gesundheitlichen Zustand zu tun hatte. Lenas Vater nannte sie die Gretchenfrage . Anschließend führte die Heilerin bestimmte Handbewegungen über dem Kopf des Kranken aus und verordnete ihm, einen Monat lang stinkende Kräutertees zu sich zu nehmen, die im Preis inbegriffen waren und am Ausgang ausgehändigt wurden.
Als der ungläubige Thomas dran war, fragte ihn die Heilerin:
»Glaubst du an Gott?«
»Nein.«
»Warum kommst du dann?«
»Geht es nicht ohne Gott?«
»Nein.«
Die Heilerin ließ den Kopf sinken, dabei wurde offensichtlich, dass sie blind war.
»Ich bezahl’s auch«, sagte der Onkel.
»Hast du schon. Du kannst die Tees trinken, aber sie werden dir nicht helfen.«
Der Onkel ging zur Seite. Nach einiger Zeit fügte die Heilerin hinzu:
»Nach Gottes Willen zu sterben ist ein großes Glück und ich kann es kaum erwarten, dass er mich endlich zu sich ruft. Aber doch nicht so erbärmlich, wie ein Hund, an Dickdarmkrebs …«
Die Heilerin spuckte angewidert vor ihre Füße.
Die Diagnose war richtig geraten.
Lenas Onkel überlegte noch ein bisschen und ging eine Woche später zum ersten Mal in seinem Leben beichten, und zwar zum selben Pfarrer, bei dem auch Lena schon einmal gewesen war. Im Gegensatz zu ihr verbrachte er sechs Stunden auf den Knien. Nach seiner Bekehrung lebte er nicht mehr lange, so ein bis anderthalb Jahre. Er starb im Kreise seiner Angehörigen, still und leise.
»In seinem Fall«, schrieb Lena später, »war es weniger wichtig an Gott zu glauben, als seine Angst loszuwerden und das Unausweichliche zu akzeptieren. Es kann aber auch sein, dass er gar kein Atheist war, sondern immer nur so getan hat. Die Militantesten unter ihnen werden mit der Zeit angeblich extrem religiös. Ich für meinen Teil habe nie mit Gott gehadert. Ich habe nie nach Beweisen dafür gesucht, dass es ihn nicht gibt, sondern im Gegenteil darauf gewartet, dass er sich zu erkennen gibt. Hin und wieder tat er das auch, doch leider habe ich das nie verstanden.«
Lenas beste Freundin Hund sorgte, als beide gerade fünfzehn geworden waren, zum zweiten Mal für eine gehörige Überraschung, als sie aus heiterem Himmel heiratete.
Über den Bräutigam hatte Lena nie zuvor etwas gehört. Hund schwieg in diesem Punkt wie ein Grab. Vielleicht war es ihr unangenehm oder sie meinte, es würde Lena nicht interessieren. Hund selbst machte sich wenig Gedanken und war zu gutmütig, was immer auch selbstzerstörerisch ist.
Die letzten Jahre über hatten sich die beiden immer seltener gesehen. Lena interessierte sich mittlerweile für andere Dinge und Menschen, während Hund sich scheinbar für gar nichts interessierte. Vielleicht war sie auch beleidigt und hatte aus Rache geheiratet, um sich jemand anderem zu schenken, wenn Lena sie nicht
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