Bis ans Ende der Welt
gewußt, welche Strapazen mich da erwarten, wäre ich vielleicht ganz daheim geblieben. Diese vier Monate sollten mir abschreckend genug sein, und ich konnte mir keine Wiederholung vorstellen. Andere aber taten es. Angela zum Beispiel, die schon einmal den ganzen Weg aus der Schweiz bis nach Santiago gegangen ist, in Spanien irgendwie krank und unglücklich wurde, und nun den Geist des Camino neu einzufangen versuchte. Oder Les Fous , das seltsame Rentnerehepaar aus Metz in Lothringen, das da seit Jahren alle Pilgerwege unsicher machte. Verliebt wie an dem Hochzeitstag und mit einer Stirnlampe um drei Uhr früh locker plaudernd unterwegs. Ich hörte von einem Mann, der von Deutschland bis Santiago pilgerte, von da nach Rom ging und dann weiter bis nach Jerusalem. Manche kriegen vom Pilgern wohl nie genug. Johann Wolfgang Goethe, der vornehme Herr Geheimrat voll Dünkel und Gehabe, äußerte sich in seiner „Italienischen Reise“ recht abfällig über die „arbeitsscheuen Berufspilger“. Er nahm zwei von ihnen einmal im Sturm und Regen in seiner Kutsche mit.
Als ich dann endlich hoch über mir Saint-Jean-Pied-de-Port erblickte, war das schlechte Wetter auch schon da. Kalte Regenschauer fegten über die Landschaft, alle Farben verblaßten. Aber mein Herz frohlockte, als ich die altwürdige Pilgerbastion am Berghang sah. Selbst die Füße haben aufgehört zu schmerzen. Es war eine Ankunft wie in Conques. Freilich ohne die hübsche Sissi und ohne den Charme der Haut Provence. Zwei Drittel meines Gelübdes lagen da symbolisch in Stein und Ziegel vor mir. Und wie jedes mal vor so einem wichtigen Abschnitt, wunderte ich mich, daß ich überhaupt so weit kam. So, träumte ich zu Hause über der Landkarte, werde es einst sein. Aber der Traum war nicht zu konkret. Daß die Stadt ein richtiges Schmuckstück ist, war mir wichtig. Häßliche Ziele sind keine Ziele. Natürlich meine ich nur den historischen Kern. Der besteht aus einer in den Hang gebauten Gasse mit jeweils einem Tor oben und unten, wo auch die Kathedrale steht, und noch einigen zig anderen mittelalterlichen Häusern darunter bis zur mächtigen Stadtmauer. Dahinter, im Tal, befindet sich die Neustadt, deren Aufgabe es ist, mit Parkplätzen, Kaufhäusern, Hotels und Restaurants den zahlreichen Touristen Geld aus der Tasche zu ziehen. Massen von Touristen, die vor allem wegen des Camino kommen. So machte ich ihnen, kaum auf der Hauptstraße angelangt, große Freude. Unter dem Rucksack gebeugt, in Regenponcho eingehüllt und den krummen Pilgerstab in der Hand wurde ich sofort das Ziel unzähliger Fotoobjektive. Endlich mal ein echter Pilger! Die Nachricht verbreitete sich wohl schnell. Auch im Touristenbüro, das von gelangweilten Urlaubern gerammelt voll war, wurden meine recht schwierigen Händel durch ein Blitzgewitter empfindlich gestört. Ich habe nämlich den Namen der von Thibaud in Navarrenx gebuchten Herberge einfach vergessen, und nun dachte ich, daß mir die Angestellten mit irgendeinem Computertrick oder Telefon die mühsame Suche zu Fuß ersparen könnten. Das erforderte Charme und Verhandlungsgeschick, die sich jedoch bei all dem Tumult um mich herum nicht einstellen wollten. So richtig böse konnte ich den französischen Urlaubern freilich nicht sein. Erstens hatte ich zu diesem Zeitpunkt generell alle Franzosen lieb, zumindest vorläufig, zweitens hätte ich mir an ihrer Stelle so einen echten abgelatschten, nassen Jakobusbruder in absolut irren Klamotten und mit allem passenden Zubehör auch nicht entgehen lassen, und drittens tat es meiner Eitelkeit ein wenig wohl, wenn ich zum Lokalkolorit beitragen konnte. Wer weiß, in wie vielen verstaubten Küchenecken Frankreichs und der anliegenden Provinzen mein Konterfei heute noch hängt. Am Sonntag beim Frühstück schaut der Mann das Bild an der Wand und sagt zu seiner Gattin: „Ha, ich habe damals diesen Kerl entdeckt, du hättest ihn bestimmt übersehen. Und weiß du noch, er wollte wissen, wo er die Übernachtung reservierte. Er habe es vergessen. Das stell’ dir mal vor! Ein schöner Urlaub war es damals.“
Hier im Touristenbüro aber ging es hoch her. Davon bekam auch die Empfangsdame ab. Sie könne in diesem Chaos nichts herausfinden, meinte sie dann — unter diesen Umständen noch recht freundlich — und gab mir die Adresse einer Herberge mit dem betörenden Namen L’Esprit du Chemin nur ein paar Häuser weiter, die sich dann tatsächlich als die richtige erwies. Nur hätte ich
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