Bis ans Ende der Welt
Fehler gemacht zu haben, als er sich aus Abenteuerlust für den Bus statt das Flugzeug entschied. Dabei war die Sache doch ganz einfach. Alle Busse, egal wohin sie unterwegs waren, fuhren zunächst mal nach Paris. Warum aber unser Bus ausschließlich mit nach Deutschland heimkehrenden portugiesischen Gastarbeitern besetzt war, blieb mir rätselhaft. Die Portugiesen, inzwischen längst im Rentenalter, verbrachten nur den Sommer in ihrer Heimat, wo sie meist stattliche Immobilien besaßen, und kehrten nun wieder nach Deutschland zurück, wo sie ihr ganzes Leben verbrachten und als ihr eigentliches Zuhause ansahen. Sie waren im Gegensatz zu den Piefkes alle sehr lieb und zuvorkommend und wären ideale Reisebegleiter, hätten sie nur die Klappe halten können. Einer, der hinter mir saß, sprach ununterbrochen die ganze lange Reise, mit der Ausnahme von den paar Stunden, die er verschlief. Nach einer gewissen Zeit war es wie ein Stachel im Hintern. Als ich es irgendwo in Schwaben nicht mehr aushielt und ihn sehr höflich bat, wenigstens fünf Minuten zu schweigen, entschuldigte er sich auf eine nette Art für die Störung und hielt diese fünf Minuten Sprechverbot auf die Sekunde genau ein. Danach sprudelte er fröhlich bis nach München weiter.
Vorerst aber befuhren wir die kastilische Hochebene und ich verfolgte wieder aufmerksam die Strecke, in der Hoffnung, etwas von dem beinharten Camino zu entdecken, auf dem ich mich so sehr zu plagen hatte. Nun freilich aus einer anderen, bequemeren Perspektive. Der Tag ging dem Ende zu, das Licht fiel weich und sanft auf die verstaubte, kahle Landschaft. Das Silber des Tages verlosch zum stumpfen Grau, die Dämmerung setzte bald ein. Und doch war der Pilgerweg beileibe nicht leer. Mehrere Gestalten zogen noch müde und verdrossen auf dem breiten Streifen neben der Asphaltstraße dahin, wohl solche, die kein Bett bekamen. Die Hoffnung, in der nächsten Ortschaft mehr Glück zu haben, war, wie ich wußte, gering. Und der nächste Ort war noch weit, weit weg. Sie werden irgendwann müde aufgeben und im staubigen Stoppelfeld, ohne Dusche, ohne Abendessen, die kalte Nacht verbringen müssen. Und die Nachttemperatur erreichte in dieser fortgeschrittenen Jahreszeit fast schon den Gefrierpunkt. „Arme Hunde,“ meinte Armin und blieb noch eine ganze Weile still sitzen, was bei ihm wie ein Ausrufezeichen wirkte. Und auch mir war lange unwohl, als ob ich selbst noch auf diesem trostlosen, unermeßlichen Pfad dahin zöge, verdreckt, verschwitzt, wund und müde, hungrig und durstig. Pures Mitleid. So also sah Pilgern von außen aus.
In der Nacht entkamen wir einer Razzia an der Grenze zu Frankreich, vor der sich der portugiesische Nachbar aus Erfahrung sehr fürchtete. Das brachte mich wieder auf den Boden der Realität. Nicht einmal im Bus war man heutzutage vor den Bütteln sicher. Vorsichtshalber entfernte ich das palästinensische Kopftuch, auf Reisen ein ungemein praktisches Kleidungsstück, das ich mal aus Jerusalem mitbrachte. Mit gutem Grund. Als ich es damals vor zwanzig Jahren kaufte und in einer durchsichtigen Plastiktüte ahnungslos auf der Straße trug, hielt mich am Stadtrand ein israelischer Polizist an, zeigte immer wieder wütend auf das Tuch, belaberte mich lautstark auf Arabisch und Hebräisch und ließ sich nicht davon überzeugen, daß ich keine der Sprachen spreche. Bis mir die Geduld ausging, ich selbst wütend wurde und ihn dort einfach stehen ließ. Auch auf die Gefahr hin, daß er mich von hinten erschießt. Ich war ja im Recht. Aber wiederholen wollte ich es nicht.
In Toulouse stieg Armin aus, und kurz danach, auf einem Parkplatz, wo wir geschlagene Stunde gewartet haben, ein junges deutsches Mädchen zu. Man brachte es extra mit einem Wagen hin. Ich hätte gerne mehr über dieses unübliche Service erfahren, doch das Mädchen schlief die ganze Reise bis nach Stuttgart einfach durch, und mir schien es, als ob es eine schwere Zeit hinter sich hätte. Es erinnerte mich an die Tochter meines Freundes Martin, die auch einst nach einer gescheiterten Beziehung nach Frankreich aufbrach, dort spurlos etliche Monate verbrachte und dann, völlig heruntergekommen, das wunderschöne, lange blonde Haar abgeschnitten und mit roter Henna ruiniert, nach Hause kam. Sie sprach nie über diese Zeit, und war seitdem auch recht merkwürdig. So dauerte mich dieses Mädchen hier, und ich legte eine Fürbitte für sie beim Herrn ein, da er alles über uns weiß und jede Wunde heilen
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