Bis dein Zorn sich legt
eine neue Nachricht. Sie wählt ihre Mailbox an und lauscht.
»Verdammt«, sagt sie.
Die Kollegen heben fragend die Augenbrauen.
»Rebecka ist nach Piilijärvi gefahren, um mit Hjalmar Krekula zu sprechen. Offenbar hat er angerufen und gesagt, dass er gestehen will.«
Sie wählt Rebeckas Nummer. Keine Antwort.
»So verdammt rücksichtslos«, ruft sie.
Die Kollegen schweigen. Anna-Maria sieht Sven-Erik an. Sie sieht, dass er an Regla denkt. Wenn hier irgendwer rücksichtslos ist, dann ja wohl Anna-Maria.
Plötzlich ist sie ungeheuer müde und traurig. Sie versucht, sich zu wappnen für den Fall, dass Sven-Erik etwas sagt, aber sie fühlt sich offen und schutzlos, bringt es nicht über sich, die Ärmel aufzukrempeln, die Fäuste zu ballen, ihr Visier hochzuklappen.
Ich werde kündigen, denkt sie. Ich schaff das nicht mehr. Ich lege mir noch ein Kind zu.
Einige Sekunden vergehen, aber in diesen Sekunden passiert ziemlich viel. Anna-Maria sieht Sven-Erik an. Sven-Erik sieht sie an. Am Ende sagt er: »Damit ist es nun mal, wie es ist. Wir fahren nach Piilijärvi.«
Und alle Lasten fallen von Anna-Maria ab. Wie Schnee, der im Frühling vom Dach rutscht.
»Damit ist es nun mal, wie es ist.« Er hat Regla gemeint.
Hjalmar trinkt einen Schluck Kaffee. Hält den Becher mit beiden Händen. Vera kratzt auffordernd an seinem Bein. Er soll nicht aufhören, sie zu streicheln.
»Ich habe nicht daran gedacht, dass sie es war«, sagt er zu Rebecka. »Ich konnte einfach nicht daran denken. Sie starb dort. Ich stand dort.«
»Aber seither hast du an sie gedacht?«
»Ja«, flüstert er. »Oft.«
»Wie ist sie in den Fluss geraten?«
»Meine Mutter hat gesagt, wir sollten sie wegbringen. Sie sollte nicht dort gefunden werden. Das Flugzeug, weißt du. Das durfte nicht bekannt werden. Wir haben sie hochgezogen. Wir haben auf ihn gewartet. Aber er ist nie nach oben gekommen.«
Er kneift die Augen zusammen. Wieder sieht er es vor sich, wie sie die Tür zerschlagen und die Reste in das Eisloch geworfen haben.
Und wir haben nicht an die Rucksäcke gedacht, denkt er. Man glaubt, dass man einen klaren Kopf behält, aber das stimmt nicht.
Er streicht sich über das Gesicht und redet weiter: »Wir haben sie mit dem Geländefahrzeug zum Waldweg gebracht. Ich hielt sie dabei auf dem Schoß. Und da wurde es dann unerträglich. Dieses Gefühl ist auch nicht mehr vergangen. Wenn ich sie nicht auf dem Schoß gehalten hätte. Dann hätte ich vielleicht … ich weiß nicht, vergessen können. Wir haben sie in das Auto der beiden gelegt, nach hinten. Ich bin nach Tervaskoski gefahren. Da war das Wasser noch nicht zugefroren. Das Benzin hat genau gereicht. Tore hat Mutter nach Hause gefahren. Dann kam er mit unserem Auto wieder. Wir haben sie zu den Stromschnellen getragen und hineingeworfen. Haben die Wagenschlüssel auf dem einen Reifen versteckt.«
»Deine Mutter«, sagt Rebecka zu Hjalmar. »Ich glaube, dass sie während des Kriegs Informationen an die Deutschen verkauft hat.«
Hjalmar nickt.
Das kann schon sein, denkt er. Ihm fällt eine Tanzveranstaltung ein, die er und Tore als junge Burschen besucht haben. Er erinnert sich an einen Jungen in ihrem Alter, der höhnisch den Hitlergruß vorführte. Der Vater dieses Jungen war Kommunist. Das Ganze endete mit einer gewaltigen Prügelei. Erst als jemand rief, die Polizei sei unterwegs, löste die Sache sich auf.
Er denkt an Kerttus Geschrei in der Kammer, als Tore im Wald verschwunden war. »Das hier ist die Strafe!«
Er denkt an Isak in der Sauna. Und das ist noch nicht lange her. Es war, nachdem Johannes Svarvare ihnen erzählt hatte, dass er mit Wilma über das Flugzeug gesprochen hatte. Nach Isaks Herzinfarkt. Nach den Morden.
Die Stimmung zu Hause war trübe und zäh von allem, was nicht gesagt oder angedeutet werden durfte. Kerttu hatte Schmerzen. Schlimmer denn je. Sie klagte lauthals darüber, wie schwer es sei, sich um Isak zu kümmern. Obwohl es ihm doch besser gegangen war, vorigen Winter. Anfang März gab es einen Morgen, an dem er nicht mehr hochkam. Die Ärzte meinten, er habe vermutlich in der Nacht einige kleinere Infarkte erlitten. Er blieb liegen. Aber vorigen Winter war es besser gewesen.
»Er stinkt«, sagt Kerttu zu Hjalmar.
Sie sitzt in ihrem guten Mantel und den guten Schuhen und mit der Handtasche auf den Knien am Küchentisch und wartet darauf, dass Tores Frau Laura sie in die Stadt fährt. Kerttu muss zum Arzt. Nur dann verlässt sie das Dorf, wenn sie
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