Die Hexe von Freiburg (German Edition)
Prolog
Die Frau schob sich eine weiße Strähne aus der Stirn und rückte den Stuhl näher ans Herdfeuer. Marthe-Marie blickte auf.
Lene betrachtete ihre Älteste liebevoll und wehmütig zugleich. Wie sehr sie Catharina doch glich. Mit ihrem schwarzen, glänzenden Haar und diesem dunklen Blick.
Es war an der Zeit. Sie musste die Wahrheit erfahren.
«Zünde das Licht an, Kind, und hol mir die Wolldecke. Im Alter kriecht einem die Kälte in alle Knochen.»
«Du bist nicht alt, Mutter.»
«Ach, Marthe-Marie, was weißt du schon. Du hast noch alles vor dir.» Sie wickelte sich in die Decke. «Ich will dir heute etwas zeigen. Dort im Schrank, unter der Wäsche, liegt ein Buch. Bring es mir bitte.»
Marthe-Marie erhob sich und ging zum Schrank. Als sie unter dem schweren Wäschestapel tatsächlich auf ein Buch stieß, hielt sie überrascht die Luft an.
«Was ist das?»
Lene nahm ihr den schweren Band ab.
«Hier, zwischen diesen Buchdeckeln, auf vielen hundert Seiten niedergeschrieben, steht die Lebensgeschichte meiner Base Catharina.»
«Hat sie selbst das alles aufgeschrieben?»
«O nein.» Lene lachte bitter auf. «Catharina konnte zwar schreiben wie ein gelehrter Mann, aber zu jener Zeit hätte sie nicht einmal mehr eine Feder zwischen den Fingern halten können. Ein gewisser Dr. Textor hat diese Zeilen verfasst. Ich selbst kenne ihn nicht, doch in Catharinas besseren Zeiten hat er zum Freundeskreis ihres Mannes gehört, und sie sagte einmal über ihn, dass er mehr Verstand besäße als der gesamte Magistrat zusammen. In den langen Wochen, als sie gefangen im Turm saß, kam dieser Mann oft zu ihr, gepeinigt von schlechtem Gewissen. Er war zu Anfang mit ihrer Verteidigung beauftragt gewesen, doch später hat man diese Aufgabe einem anderen Ratsherren übertragen. Als er Catharina fragte, ob er ihr irgendwie helfen könne, bat sie ihn, die Wahrheit aufzuschreiben, damit sie nicht verloren gehe. Und wenn alles vorbei sei, möge er den Bericht Lene Schillerin, ihrer Base in Konstanz, übergeben. So kam ich zu diesen Seiten.»
Lene zögerte und starrte in die Flammen. Das Mädchen hatte ein Recht darauf, alles zu erfahren. Müde richtete sie sich auf.
«Die Toten soll man ruhen lassen, dachte ich immer. Was hätte ich euch erzählen sollen? Aber jetzt fühle ich, dass ich dir die Wahrheit über Catharina schulde. Du musst wissen: Sie war keine Hexe. Ihr einziger Fehler mag gewesen sein, dass sie nicht in der Weise gelebt hat, wie es die Welt von einer Frau erwartet.»
1
So also sah eine leibhaftige Hexe aus! Festgekettet kauerte Anna Schweizerin mit gebrochenen Beinen auf dem Henkerskarren, kahl geschoren, den flackernden Blick zum Himmel gerichtet, mit einem losen Kittel über dem nackten Leib. Deutlich konnte die Menge die Brandmale auf ihren Armen und Schultern erkennen, zu denen jetzt neue Wunden hinzukamen: Alle zwanzig Schritte stieß der Henkersknecht ihr eine glühende Zange ins Fleisch.
Für die Zuschauer des Spektakels war die öffentliche Bestrafung von Mördern, Dieben und Betrügern so selbstverständlich wie der Wechsel von guten und schlechten Ernten, von fetten und mageren Jahren. Ob Auspeitschen oder Brandmarken, Abschneiden der Zunge oder der Gliedmaßen, Aufhängen, Rädern, Ertränken oder der mildtätige Hieb mit dem Richtschwert – niemandem wäre in den Sinn gekommen, dass an der Wiederherstellung des Rechts mittels körperlicher Züchtigung etwas unrecht sein mochte. Davon abgesehen, war jeder Schauprozess eine willkommene Unterbrechung des Alltagstrotts und der täglichen Mühsal.
Doch als am 20. März des Jahres 1546 das Hohe Gericht verkündet hatte, die Besenmacherin Anna Schweizerin sei wegen Hexerei bei lebendigem Leib zu verbrennen, ging ein ungläubiges Raunen durch die Bevölkerung von Freiburg. Dabei war es nicht die schreckliche Todesart, die die Gemüter erregte, sondern die Tatsache, dass mitten unter ihnen eine Hexe gelebt haben sollte, unbemerkt und unerkannt. Zwar hatte man von Ketzer- und Hexenverbrennungen gehört, aber das waren Nachrichten von weit her gewesen, aus anderen Teilen des Reiches, aus Frankreich, Oberitalien oder aus der welschen Schweiz. Auch der inquisitorische Eifer der beiden Dominikanermönche Jacob Sprenger und Heinrich Cramer war niemals bis Freiburg gelangt. Zauberei und Wahrsagerei, schwarze und weiße Magie – das waren Dinge, mit denen fast jeder einmal in Berührung gekommen war, doch Hexerei und Teufelspakt? Auf einmal wussten sich
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