Bis dein Zorn sich legt
über nichts zu reden. Oder sie stellte Fragen. »Hast du daran gedacht, Gustav ein zweites Paar Handschuhe mit in den Kindergarten zu geben?«, »Kannst du auf dem Heimweg einkaufen?«
Anni Autio wohnte in einem rosa Eternithaus mitten im Ort unten am See. Die Treppe war braun gebeizt, gut in Schuss und reichlich mit Kies bestreut. Das Geländer war aus schwarz angestrichenem Eisen. An der Haustür war mit einer Heftzwecke ein von Hand beschriebener eingeschweißter Zettel befestigt. Darauf stand:
KLINGELN
und WARTEN .
Ich brauche lange, um zur Tür zu kommen.
Aber ich BIN zu Hause.
Anna-Maria klingelte. Und wartete. Einige Raben spielten in den Luftströmungen über dem See. Schwarz und großartig vor dem blauen Himmel. Ihre Rufe waren weit zu hören. Einer drehte sich um seine eigene Achse. Die kannten offenbar keine Sorgen.
Sie wartete. Spürte, wie jede Zelle in ihrem Körper mit raschen Schritten zum Auto fliehen und wegfahren wollte. Um die Begegnung mit der Trauer eines anderen Menschen aufzuschieben.
Eine Katze kam über den Hofplatz spaziert, entdeckte Anna-Maria und lief eilig weiter. Sven-Erik war ein Katzenmensch. Anna-Marias Gedanken wandten sich wieder ihm zu. Bei solchen Dingen war er immer gut gewesen. Das Schlimmste zu erzählen. In den Arm zu nehmen und zu trösten.
Zum Teufel mit ihm, dachte sie.
»Verdammt«, sagte sie laut, um die traurigen Gedanken in die Flucht zu schlagen.
Im selben Moment ging die Tür auf. Eine schmächtige, gebeugte Frau von über achtzig hielt sich mit beiden Händen an der Türklinke fest. Ihre weißen Haare hingen als fadendünner Zopf über ihren Rücken. Über einem schlichten, durchgeknöpften blauen Kleid trug sie eine weite gestrickte Herrenjacke. An den Beinen hatte sie dicke Nylonstrümpfe und an den Füßen Schnabelschuhe aus Rentierleder.
»Verzeihung«, sagte Anna-Maria mit verlegenem Lächeln. »Ich war total in meine eigenen Gedanken vertieft.«
»Ja, ja«, sagte die Frau freundlich. »Ich bin ja froh, dass Sie gewartet haben. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele nicht diese Geduld aufbringen, obwohl ich doch den Zettel aufgehängt habe. Wenn man sich endlich zur Tür durchgekämpft hat, sieht man nur noch ihre Autos verschwinden. Da kriegt man doch Lust, sie abzuschießen. Da hat man sich auf ein Plauderstündchen gefreut, und dann wird man enttäuscht. Die Jehovas, die warten immer.«
Sie lachte auf.
»Und jetzt nehme ich das nicht mehr so genau. Die können auch reinkommen und reden. Aber Sie sind nicht religiös, oder? Verkaufen Sie Lose?«
»Anna-Maria Mella von der Polizei in Kiruna«, stellte Anna-Maria sich vor. »Sind Sie Anni Autio?«
Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht der Frau.
»Sie haben Wilma gefunden«, sagte sie.
Anni Autio stützte sich gegen die Wände und hielt sich an strategisch aufgestellten Stühlen fest, als sie sich langsam vor Anna-Maria her in die Küche schleppte. Anna-Maria streifte in der Diele, die fast ganz von einer großen brummenden Gefriertruhe belegt war, ihre Winterstiefel ab. Sie nahm das Angebot zu einem Kaffee dankend an. Die Küche schien seit den fünfziger Jahren nicht mehr renoviert worden zu sein. Der Wasserhahn wackelte, und die Wasserleitung rauschte, als Anni den Kessel füllte. Die Schränke waren tannengrün und reichten bis unter die Decke. An der Wand drängten sich Fotos, Gedichte von Edith Södergran und Nils Ferlin, Kinderzeichnungen, auf denen die Wasserfarben so verblichen waren, dass man das Motiv nicht mehr erkennen konnte, Miniaturbilder von Vögeln und gerahmte Blätter aus alten Blumenalben.
»Wir haben ihre Mutter nicht erreichen können«, sagte Anna-Maria. »Aber sie ist ja bei Ihnen gemeldet, und in der Vermisstenmeldung sind Sie als nächste Angehörige angeführt. Sie war Ihre Enkelin …«
»Urenkelin, ja.«
Anni beugte sich tief über den Herd, während sie den Kaffee kochte. Sie hörte sich Anna-Marias Bericht darüber an, wo Wilma gefunden worden war, und ab und zu nahm sie mit einem gehäkelten Topflappen den Deckel vom Kessel.
»Sagen Sie, wenn ich irgendwie helfen kann«, sagte Anna-Maria, was ihr eine abwehrende Handbewegung als Antwort einbrachte.
»Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte Anni, als sie Kaffee eingeschenkt hatte.
Sie zog eine Packung Mentholzigaretten aus der Tasche.
»Ich weiß, es ist der pure Selbstmord. Aber ich bin im Januar achtzig geworden und habe mein Leben lang geraucht. Und es gibt Leute, die auf ihre Gesundheit
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