Bis dein Zorn sich legt
achten … das Leben ist ungerecht.«
Sie tippte mit der Zigarette auf das Einmachglas, das sie als Aschenbecher benutzte, und sagte noch einmal: »Das Leben ist ungerecht.«
Sie wischte sich mit dem Handrücken über Oberlippe und Wange.
»Verzeihung«, sagte sie.
»Weinen Sie nur«, sagte Anna-Maria, genau, wie Sven-Erik das gemacht hätte.
»Sie war erst siebzehn Jahre alt«, weinte Anni. »Sie war zu jung. Und ich bin zu alt, um alle überleben zu müssen.«
Sie sah Anna-Maria wütend an.
»Ich habe das so satt«, sagte sie. »Es ist schlimm genug, dass ich fast alle Gleichaltrigen überlebt habe. Aber wenn man auch die Jüngeren überlebt …«
»Wieso hat sie eigentlich bei Ihnen gewohnt?«, fragte Anna-Maria, vor allem, um überhaupt etwas zu sagen zu haben.
»Sie hat mit ihrer Mutter, also meiner Enkelin, in Huddinge gewohnt. Ging dort aufs Gymnasium, aber das Lernen fiel ihr wohl nicht so leicht. Sie wollte selbst eine Pause machen und hier oben bei mir wohnen. Ist vor zwei Jahren zu Weihnachten hergezogen. Sie hat für Marta Andersson auf dem Campingplatz gearbeitet. Und dann hat sie Simon kennengelernt. Er ist mit den Kyrös verwandt, aus dem roten Holzhaus …«
Sie zeigte in Richtung des Hauses, das sie meinte.
»Er war bis über beide Ohren in sie verliebt.«
Sie starrte Anna-Maria an.
»Ich habe noch nie jemandem so nahegestanden. Nicht meinen Töchtern. Und meiner Schwester schon gar nicht. Hier im Dorf. Hier will eigentlich niemand anderen wohl. Aber durch sie habe ich mich frei gefühlt, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Meine Schwester Kerttu zum Beispiel. Ihr ist immer alles besser gelungen als mir. Ist verheiratet mit Isak Krekula, dem Fuhrunternehmer.«
»Dieser Name kommt mir bekannt vor«, warf Anna-Maria dazwischen.
»Ja, sie waren wohl nie die Lieblinge der Polizei. Jetzt haben ja seine Söhne den Betrieb übernommen. Manchmal ärgere ich mich über Kerttu. Immer will sie über Geld und Geschäfte reden und welche wahnsinnig wichtigen Leute ihre Jungen getroffen haben. Aber Wilma hat gesagt: ›Lass sie nur reden. Wenn Geld und so was sie glücklich macht, dann herzlichen Glückwunsch. Dich macht das doch sicher nicht weniger glücklich.‹ Meine Güte, jetzt höre ich es ja, es klingt so einfach. Aber im vorigen Sommer. Ich hatte mich nie so frei und so jung gefühlt. Sie können sagen, was Sie wollen, Ann-Britt …«
»Anna-Maria.«
»… aber sie war meine beste Freundin. Eine Achtzigjährige und eine Siebzehnjährige. Sie hat mich eben nicht wie eine alte Frau behandelt.«
Es ist Mitte August. Blaubeerzeit. Simon steuert das Auto über einen Waldweg. Wilma sitzt neben ihm. Anni sitzt auf der Rückbank, neben sich den Rollator. Jetzt haben sie ihr Ziel erreicht. Hier gibt es Blaubeer- und Preiselbeersträucher, gleich am Weg. Anni müht sich aus dem Auto. Simon holt ihren Rollator und ihren Beereneimer heraus. Es ist ein schöner Tag. Die Sonne wärmt und zieht Duftfäden aus dem Wald.
»Ich war seit Jahren nicht mehr hier in der Gegend«, sagte Anni.
Simon wirft ihr einen besorgten Blick zu. Nein, eben. Wie soll sie denn in diesem Gelände mit dem Rollator zurechtkommen?
»Sollen wir dir nicht Gesellschaft leisten?«, fragt er. »Ich kann den Eimer tragen.«
Wilma sagt »hör auf« und Anni ruft »älä houra« und fuchtelt mit der Hand, als wäre sein Einwand eine Fliege, die sie verjagen will. Wilma weiß. Anni muss eine Weile hier draußen in der Stille sein dürfen. Wenn sie nicht weiterkommt und auch keine einzige Blaubeere pflückt, dann spielt das keine Rolle. Sie kann einfach auf einem Stein sitzen und nur sein.
»Wir holen dich in drei Stunden wieder ab«, sagt Wilma.
Dann dreht sie sich mit einem herausfordernden Lächeln zu Simon um.
»Ich weiß, was du und ich so lange machen können.«
Simon wird knallrot.
»Hör auf«, sagte er mit einem Blick auf Anni.
Wilma lacht.
»Anni ist fast achtzig. Sie hat fünf Kinder geboren. Glaubst du, sie hat vergessen, was man miteinander macht?«
»Ich habe das nicht vergessen«, sagt Anni. »Aber du darfst ihn nicht in Verlegenheit stürzen.«
»Stirb hier draußen nicht«, mahnt Wilma fröhlich, ehe sie und Simon ins Auto steigen und losfahren.
Sie fahren nur ein kleines Stück. Dann hält das Auto an, und Wilma steckt den Kopf aus dem Fenster und ruft Anni so laut zu, dass es im Wald ein Echo gibt: »Aber wenn du doch stirbst, dann ist heute ein phantastischer Tag, und das hier ist ein
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