Bis dein Zorn sich legt
in die Thermoskanne gießen und draußen auf der Treppe trinken. Jetzt, wo die Sonne so warm ist.«
Dann dauert es ein halbes Jahr, bis sie die Thermoskanne hervorgeholt hat, den Kaffee hineingegossen, bis sie die Steppjacke angezogen und sich auf die Vortreppe hinausgekämpft hat. Ganz zu schweigen davon, welche Mühe es ihr macht, sich auf die Treppenstufe zu setzen. Anni lacht.
»Ich habe das Telefon in der Tasche. Damit ich Hilfe holen kann, wenn ich nicht wieder hochkomme. Du kannst das ja offenbar nicht.«
Sie gießt Kaffee ein. Der ist heiß. Sie trinkt langsam und genießt die Sonne an Wangen und Nase. Zum ersten Mal seit meinem Tod denkt sie voller Freude, dass sie vielleicht noch einen Sommer erleben wird. Denkt, dass sie sich nur davor hüten muss, zu stürzen, damit sie nicht ins Krankenhaus muss.
Die Raben landen auf dem Hofplatz. Zuerst stolzieren sie umher, als ob alles ihnen gehöre. Die Sonne lässt ihr schwarzes Federkleid blinken und glänzen. Sie drehen ihre krummen Schnäbel hin und her. Sagen nicht viel. Ich habe den Eindruck, dass sie Theater spielen. So tun, als seien sie ernste Typen. Wie Pfauen schleifen sie ihre keilförmigen Schwanzfedern über den Boden. Wenn ich wirklich hier säße, würde ich mit Anni darüber Witze machen. Wir würden dann hier auf der Treppe sitzen und versuchen herauszufinden, wo diese wichtigen Herren wohl herkommen. Anni würde sie sofort für drei laestadianische Prediger halten, die uns bekehren wollen. Ich würde auf den Chef des Sozialamts, einen Schuldirektor und einen Amtsrichter tippen. »Jetzt bin ich geliefert«, würde ich sagen.
Anni schenkt sich noch einmal nach. Sie hält den Becher zwischen den Händen.
Ich würde auch gern einen Becher mit dampfendem Kaffee zwischen den Händen halten. Ich würde gern wirklich mit Anni hier auf der Treppe sitzen. Ich will, dass Simon auf den Hofplatz gefahren kommt. Ach, sein Lächeln, wenn er mich ansah. Als ob jemand ihm ein wunderschönes Geschenk gemacht hätte. In mir tut alles weh vor Sehnsucht. Nichts können meine Hände berühren.
Als ein Wagen vorgefahren kommt, glaube ich fast, dass er es ist. Aber es ist Hjalmar. Die Raben jagen in die Bäume.
Hjalmar schaltet den Motor aus und steigt schwerfällig aus dem Wagen.
Jetzt steht er vor Anni und kann um nichts in der Welt begreifen, wie er das, was er sagen will, über die Lippen bringen soll. Das macht aber nichts, denn Anni redet erst mal drauflos.
»Hier sitze ich und rede mit den Toten«, sagt sie. »Ich habe wohl den Verstand verloren. Aber was soll man machen? Ich kenne ja kaum noch Lebende.«
Sie verstummt. Ihr fällt eine alte Tante ein, die sich immerzu über ihre Einsamkeit beklagt hat. Sie denkt daran, wie lästig sie es fand, diese Tante besuchen zu müssen.
Jetzt höre ich mich genauso an, denkt sie. Es ist doch wie verhext.
»Willst du zur Hütte?«, fragt sie, vor allem, um das Thema zu wechseln.
Er nickt.
»Anni«, würgt er hervor.
Erst jetzt bemerkt sie seinen seltsamen Gesichtsausdruck.
»Was ist los?«, fragt sie. »Ist etwas mit Isak?«
Hjalmar schüttelt den Kopf.
»Aber was ist denn los, Junge? Poika, mikä sinulla on? «
Er muss lachen, weil sie ihn noch immer »Junge« nennt.
Sie packt mit ihrer dünnen Vogelkralle das Eisengeländer und kommt auf die Beine. Und jetzt sagt er es.
»Verzeih.«
Er hat nicht viel Stimme. Es ist zu hören, wie ungewohnt das für seine Stimme ist. Und wie ungewohnt dieses Wort für ihn ist. Zerknittert kommt es aus seinem Mund. Als wäre es auf Papier geschrieben und als hätte er es so lange im Mund gehabt, dass es total zerknüllt worden wäre.
Zuletzt hat er es sicher vor langer Zeit gesagt, als er von Isak verprügelt worden ist. Und damals bedeutete es »Gnade«.
»Weshalb denn?«, fragt Anni.
Obwohl sie es weiß.
Sie sieht ihn an, und sie weiß. Sie weiß, sie weiß.
Er begreift, dass sie weiß.
»Nein!«, ruft sie mit solcher Kraft, dass die Raben in den Bäumen mit den Flügeln schlagen.
Aber sie fliegen nicht auf.
Sie droht Hjalmar mit ihrer Vogelklaue. Nein, sie vergibt nicht.
»Warum?«, ruft sie.
Ihr schmächtiger kleiner Körper dort oben auf der Vortreppe. Aber die Luft um sie herum vibriert vor Kraft. Sie ist eine Priesterin, deren geballte Faust einen Fluch enthält.
Und Hjalmar streckt die eine Hand aus und stützt sich schwer auf das Auto. Die andere Hand drückt er auf sein Herz.
»Sie wollten nach einem alten Flugzeug tauchen«, sagt er. »Aber als
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