Bis einer stirbt
dass er weiterfragte, aber er tat es nicht. Erst kurz bevor ich im Hausflur verschwand, hakte er doch noch mal nach, ob wirklich alles in Ordnung sei. Dabei sah er mich so komisch an, dass ich fast schwach wurde. Aber ich sagte, er könne getrost abzischen.
»Gib mir Bescheid, wenn dein Bruder wieder auftaucht.«
»Sicher«, sagte ich unbestimmt. »Mach dir keine Gedanken.«
Dann verschwand er und ich schaute auf die Uhr. Nach drei Minuten ging ich zurück auf die StraÃe und schlenderte ohne ein Ziel los. Ich war total erschöpft, schlapp und müde. AuÃerdem hatte ich Durst und wahnsinnigen Kohldampf. Eben alles, was man in so einer Situation nicht gebrauchen kann. Einfach alles.
»Na.« Die Stimme kam von hinten. Ich zuckte zusammen, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. »Doch noch zu einem kleinen Spaziergang entschlossen?« Wie aus dem Nichts war Nils plötzlich wieder aufgetaucht.
»Idiot!« Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. »Verdammter Vollidiot! Wie kannst du mich so erschrecken?«
»Jedenfalls«, meinte er und grinste zum Glück nicht, »hat der Vollidiot Hunger. Er wird jetzt nach Hause gehen und was essen. Gehst du mit ihm? Ich glaube, er würde sich freuen.«
Freuen, pah, er hatte Mitleid. Hatte wohl seine soziale Ader entdeckt. »Klingt nicht schlecht«, erwiderte ich trotzdem kleinlaut. »Aber deine Mutter lässt mich auf keinen Fall rein. Die Ansage war deutlich. Meine Eltern wissen nicht Bescheid.« »Voilà «, sagte er und zog ohne Triumph Notizbuch und Kugelschreiber aus seiner Jacke. »Wir müssen nur sicher sein, dass sie den Brief auch wirklich kriegen.«
»Soll ich ihn vielleicht persönlich überreichen?«, fragte ich bitter.
»Wir teilen uns die Arbeit«, sagte er. »Du schreibst und ich steck ihn oben in den Briefkasten.«
Er lächelte, ich nicht.
8
»Mit deiner Mutter konnte ich ganz vernünftig reden«, sagte Marlena.
Immerhin. Als wir bei Nils zu Hause angekommen waren, hatte mein Vater schon angerufen.
»Jedenfalls nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte«, fügte Marlena hinzu. Sie wärmte Pizza im Backofen auf. Sie hatte drei davon mitgebracht, was mir ein gutes Gefühl gab.
Etwas später saÃen wir um den kleinen runden Tisch in der Küche. Nils und ich tranken Wasser, Marlena Rotwein. Obwohl ich groÃen Hunger gehabt hatte, knabberte ich jetzt eher zaghaft an meiner Pizza Funghi herum.
Bevor meine Mutter ans Telefon gekommen war, hatte mein Vater Marlena aufs Ãbelste beschimpft. SchlieÃlich hatte er damit gedroht, sie wegen Kindesentführung anzuzeigen.
»Konnte er ein so schwieriges Wort überhaupt noch aussprechen?«, fragte ich zynisch. »Kindesentführung.«
Marlena legte eine Hand auf meinen Arm. »Wäre es nicht schlimmer«, fragte sie, »wenn er sich keine Sorgen machen würde?«
»Ist âºSorgen machenâ¹ der richtige Ausdruck, wenn er hier betrunken anruft?«
»Er war nun mal nicht nüchtern, als er deinen Zettel gefunden hat. Das konnte er kaum noch ändern. Und den Zeitpunkt hat er sich ja nicht ausgesucht.« Sie wandte sich wieder dem Essen zu.
Nils hatte sich bisher zurückgehalten. »Aber grad wegen seiner Trinkerei ist Klara doch hier«, sagte er jetzt.
Hatte ich ihn vielleicht darum gebeten, mich zu verteidigen? »AuÃerdem gibt es noch ein Problem: Klara macht sich Sorgen um ihren Bruder.«
Ich fand, jetzt ging er eindeutig zu weit. Ich wollte nicht über Pit sprechen, jedenfalls nicht jetzt. Marlenas Blicke flogen von Nils zu mir und sofort zurück.
»Er ist kaum noch zu Hause«, fuhr Nils ungerührt fort. Ich wollte ihm gerade ans Schienbein treten, als er endlich das Thema wechselte. »WeiÃt du eigentlich irgendwas über das Moby Dick , die Kneipe in der Innenstadt?«
»Immer langsam.« Marlena wischte sich mit der Serviette über den Mund, bevor sie einen Schluck Rotwein trank. Ihre Aufmerksamkeit schärfte sich. »Was hat das Moby Dick mit Klaras Bruder zu tun?« Dann sagte sie zu mir gewandt: »Wie heiÃt er übrigens?«
»Pit«, schob ich ein. »Er ist grade vierzehn geworden.«
Marlena wieder zu Nils: »Also, was hat Pit mit dem Moby Dick zu tun?«
Das war jetzt mehr die Kommissarin bei der Arbeit als die Mutter beim Plaudern mit dem Sohn.
Nils schnitt eine Ecke aus seiner Pizza
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