Bis zum Ende der Welt
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Nach dem Tod ihrer Großmutter hatte Anna Tschertschenko keinen Menschen mehr auf der Welt, sah man einmal von ihrem Vater ab, einem einbeinigen Säufer, den sie das letzte Mal bei ihrer Abiturfeier einige Jahre zuvor gesehen hatte, zu welcher er nur erschienen beziehungsweise herangehumpelt war, um sich kostenlos volllaufen zu lassen.
Sie beerdigte die Großmutter zwischen ihrer Mutter und dem Großvater, einem Oberst der glorreichen Sowjetarmee, der als junger Mann an der Eroberung Berlins teilgenommen hatte und dann – bevor man ihn nach Kasachstan versetzte – eine Weile lang Aufseher im Kriegsverbrechergefängnis Spandau gewesen war. Während er niemals etwas von der Schlacht um Berlin berichtet hatte, war die Zeit in Spandau zu einem unerschöpflichen Quell von Schauergeschichten geworden, die er seiner Enkeltochter, als sie noch klein war, in den dunklen Nächten des Winters zu erzählen pflegte.
Noch ganze zwei Wochen ging Anna nach der Beerdigung in die Pädagogische Hochschule, besuchte die Seminare «Grundlagen der Astrometrie» und «Deutsch für Fortgeschrittene», aber dann begannen die Semesterferien, und sie zog sich nicht wie sonst unter den strengen Blicken ihrer Großmutter in das eigens für sie geschaffene Studierzimmerchen zurück, um für ihre Abschlussprüfung zu lernen. Vielmehr war es so, dass ihr die kleine Wohnung, in der es immer noch, obwohl die alte Frau nun schon bald einen Monat tot war, nach Kohlsuppe mit Fleisch roch, auf einmal unendlich weitläufig und leer vorkam und sie sich kaum Schlimmeres denken konnte, als allein in dieser winzigen, fensterlosen Kammer neben der Waschmaschine über den Büchern zu sitzen. Natürlich hätte sie sich in das Wohnzimmer mit den schweren, an die Wände gehängten Teppichen aus der Zeit in Kasachstan setzen können, auf das Sofa, auf dem sie die letzten zehn Jahre geschlafen hatte. Aber auch davor graute es ihr aus irgendeinem Grund fast ebenso sehr wie vor der Vorstellung, das Schlafzimmer wieder zu betreten, jenen Ort, an dem die Großmutter einst den Großvater und sie schließlich die Großmutter gefunden hatte. Es war, als ob die Zeit selbst zu Ende gegangen wäre. Als ob es nichts mehr zu tun gäbe.
Anfangs flüchtete sie in die Universitätsbibliothek und saß bis spätabends vor den aufgeschlagenen Lehrbüchern im Lesesaal, ohne dass es ihr gelang, mehr als auch nur eine Seite am Stück zu lesen. Kaum war sie am Ende einer Seite angelangt, hatte sie den Anfang schon wieder vergessen, der Text schien sich vor ihr aufzulösen. Wenn jemand, den sie zufällig kannte, an ihrem Platz vorbeikam und vorschlug, das Lernen für heute seinzulassen und stattdessen etwas trinken zu gehen, ging sie mit. Irgendwann geschah das, was man wohl
den Halt verlieren
oder, wie es in einer Nacht ein Matrose formulierte,
keinen Fuß mehr an Land haben
nennt, und sie verbrachte immer mehr Zeit in Kneipen oder auf Partys, wurde hineingezogen in die nächtlichen Schattenspiele der Clubs, wachte auf in Betten, in die gestiegen zu sein sie sich nicht erinnern konnte.
Der Tag und die Nacht verschwammen in unheilvollem Zwielicht. Sie begann, das Gefühl für die Zeit zu verlieren, während das kleine Erbe, das ihr die Großmutter hinterlassen hatte, zusammenschmolz wie ein Haufen dreckigen Schnees in der Frühlingssonne am Straßenrand.
Eines Morgens (oder war es bereits Mittag?) kam sie nach einer sehr, sehr langen Party nach Hause, öffnete die Wohnungstür und hörte ein seltsames Geräusch. Ta-tok-ta-tok machte es. Ta-tok. Sie musste etwas nachdenken, bevor ihr klar wurde, was es war: Ihr Vater wanderte mit seinem Holzbein in der Wohnung umher, auf der Suche nach Trinkbarem. Endlich habe er sie gefunden, erklärte er leutselig, und nun würde er gerne ein wenig teilhaben – an den Ersparnissen seiner toten Schwiegermutter.
So endete die Zeit der Partys und Clubs, und es begannen jene Wochen, in denen sie die Wohnung nur zum Einkaufen und Wodka-Beschaffen verlassen durfte. Sie musste für ihren Vater kochen und mit ihm und seinen Freunden, die nun, da sich in mehrfacher Hinsicht eine neue Quelle aufgetan hatte, häufiger kamen, auf dem Sofa sitzen, auf dem sie nicht mehr schlafen konnte, da dort schon die Männer schliefen, die manchmal nach ihr langten, denen sie aber meistens durch das Abräumen der Gläser oder das Holen der nächsten Flasche in die Küche entkam, wo für sie fortan eine Matratze auf dem Boden unter dem Fenster
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