Der Hypnotiseur: Historischer Roman (German Edition)
1.
Ich bin Petrus – und stand im Ruf, ein zu weiches Herz zu haben. Und dies allein deswegen, weil ich mich gegen die Gepflogenheiten wehrte, sogenannte Unbotmäßige in Zwangsjacken zu stecken, sie unmäßig zur Ader zu lassen oder sie unter kalten Duschen festzuschnallen und mit Opium zu betäuben.
Ich arbeitete im Pariser Vorort Charenton im Hospiz der Barmherzigen Brüder, wo noch heute einfache Sonderlinge wie auch schwer Geistesgestörte aus dem Bürgertum und niederem Adel einquartiert sind – wie zum Beispiel einst der von gewissen Libertins als „göttlich“ gepriesene Marquis de Sade. Vor der Revolution galt diese kirchliche Einrichtung als mustergültig, damals freilich, ich spreche vom Jahr 1822, zeichnete sich die Irren-Priorei von Charenton nur noch durch die hohen Beträge aus, die den Familien für ihre dort lebenden „Pensionäre“ abgeknöpft wurden. Eine fortschrittliche Psychiatrie gedieh anderenorts, und so kam es zwangsläufig dazu, dass ich nach zwei Jahren Dienst entsprechend desillusioniert war.
Indes, so interessant es wäre, über Charenton und seine „Barmherzigen Brüder“ zu berichten, ich möchte davon nur erzählen, was für mich wichtig war. Denn meine Geschichte ist die eines Hypnotiseurs, der weit über ein Jahrzehnt gleichsam selbst hypnotisiert gewesen war und dreißig Jahre alt werden musste, um wieder selbstbewußt zu seiner suggestiv-hypnotischen Gabe zu stehen und mit ihr umzugehen. Darum ist meine Geschichte auch eine über Marie-Thérèse, die Liebe und mörderische Leidenschaften. Und nicht zuletzt eine über die Pariser Polizei, der ich mit meiner Gabe half, Verbrechen aufzuklären – was freilich alles erst möglich wurde, als ich im Herbst 1822 vom Prior des Hospizes in Charenton entlassen wurde.
Hatte ich mir etwas zuschulden kommen lassen?
Nein.
Andererseits, ja.
Jedenfalls begann alles mit einer Rangelei und zwei beißwütigen Hunden.
Es war Ende August, ein hochsommerlicher Freitagnachmittag. Da ich nicht zur Bereitschaft eingeteilt war, freute ich mich darauf, das Wochenende in Paris verbringen zu können.
In wenigen Stunden würde ich über die grünen Boulevards flanieren, auf denen die herausgeputzten Pariserinnen den Augen so gut schmecken wie dem Gaumen Wiener Konfekt. Es störte mich wenig, dass der Glanz der Kaiserzeit verblichen war und sich die Stadt mit ihrem Anspruch, Mittelpunkt der Welt zu sein, schwertat. Doch ob nun im Palais Royal die Holzgalerien vor sich hinrotteten oder Napoleons Triumphbogen am Ende der Champs Elysées abwechselnd aufgebaut und dann wieder niedergerissen wurde, die Verlockungen der Geschäfte, die Restaurants und Märkte, Kirchen, Paläste und Parks - all das ist verglichen mit der dörflichen Einöde Charentons wie pures Gold. Ich brauchte nur an die Cafés denken, in denen man so behaglich lauschen, lesen und sinnieren konnte, schon wurde mir warm ums Herz. So indiskret und verleumderisch die Pariser Zungen auch sein mochten und so schlecht das übrige Frankreich die moralischen Qualitäten der Pariser beurteilte, für mich gab es keinen geeigneteren Ort der Welt, um die Schatten der Vergangenheit zu vergessen.
Wenn ich durch Paris` Gassen spazierte oder über die Boulevards flanierte, dann wurde ich Teil der Seele dieser Stadt und bildete mir ein, nicht nur die in jedem Stadtführer aufgeführten Bauwerke zu lieben, sondern auch die Reize seiner ganz banalen Lebendigkeit: etwa die Armeen seiner Kamine, die Blumentöpfe auf den Fenstersimsen oder die Wachsdecken auf den Tischen der Straßencafés. Selbst der zuweilen knöchelhohe Pferdemist störte mich nicht, genauso wenig die rostigen Straßenlaternen, deren ausströmendes Gas nicht minder stinken konnte wie die entsetzlichen Latrinen von Montfaucon.
Aber eben Paris, seine Menschen! Ihnen zu lauschen und zuzugucken, sie zu erleben – für mich ist dies auch heute noch ein Abbild des Universums: rotwangige Laufburschen, die von Pontius zu Pilatus rennen, Büroangestellte mit makellosen Manschetten und Gesichtern wie zerknülltes Papier, die schiefen Münder der Spieler und Absahner, die frisch ondulierten Hochstapler, die Karrieristen mit Spiegelglatzen. Oder die torkelnden Säufer, desillusionierten Soldaten, die lüsternen und schwitzigen Dickerchen, die gehetzten Liebhaber und Betrüger, die langhaarigen Heuchler oder erfolglosen Künstler, hinter deren melancholischen Augen stets der Hochmut blitzt.
Und erst die Frauen! Weiber, fett, faul und
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