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Bis zum letzten Atemzug

Bis zum letzten Atemzug

Titel: Bis zum letzten Atemzug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gudenkauf
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es nicht.«
    »Nun, für mich sieht es aber verdammt danach aus. Ich verstehe, dass du reisen willst, die Welt sehen, aber es gibt keinen Grund, auf diese Weise zu gehen, als wenn du es dein ganzes Leben lang kaum hast erwarten können, deine Mutter und mich zu verlassen.«
    Aber genauso ist es, hatte ich sagen wollen, schluckte die Worte aber doch hinunter. »Ich fühle mich in meiner Haut nicht wohl, wenn ich hier bin«, versuchte ich zu erklären, erkannte aber, dass es mir kläglich misslang.
    »Du meinst, das wird sich ändern, wenn du wegfährst? Du glaubst, dann passt dir deine Haut besser?«
    »Ja, das glaube ich tatsächlich.« Ich war erschüttert, dass er den Nagel so auf den Kopf getroffen hatte. Denn ich hatte Angst, dass ich mich, wo auch immer ich landen würde, noch genauso fühlen würde. Dass ich dort auch wieder fortgehen müsste.
    »Du kommst zurück«, sagte mein Vater mit einer Sicherheit, die Wut in mir hochkochen ließ. »Du wirst zurückkommen, und dann schuldest du deiner Mutter eine Entschuldigung.«
    »Ich werde nicht zurückkommen.« Ich spuckte ihm die Worte förmlich vor die Füße. »Ich werde nie wieder hierher zurückkehren.«
    Mein Vater schüttelte den Kopf und lachte leise. »Oh doch, du kommst zurück.« Er streckte die Hände aus, um mich in eine Umarmung zu ziehen, doch ich wich ihm aus. »Nun, ich schätze, du hattest schon so ungefähr jeden Jungen und Mann im Landkreis, da gibt es nicht mehr viel, was dich hier hält.« Ich stieg in den Wagen, ohne Auf Wiedersehen zu sagen. Als ich von der Farm wegfuhr, schaute ich in den Rückspiegel und sah meinen Vater, der sich bereits von mir abgewendet hatte und in einer Wolke aus Staub und Kies, die meine Reifen aufwirbelten, in Richtung seiner Rinder ging, die ihn niemals enttäuschten und nie Widerworte gaben.
    Ich habe mein Wort gehalten. In den achtzehn Jahren seit meinem Weggang bin ich nie nach Broken Branch zurückgekehrt. Aber ich frage mich, ob es nicht fast genauso schlimm war, dass ich meine Kinder dorthin geschickt habe.

MRS OLIVER
    Mrs Oliver traute sich kaum, ihren Blick von dem vor ihr stehenden Fremden zu lösen, aber die Schreie ihrer Schüler sorgten dafür, dass sie den Kopf von dem Mann abwandte, der ihr irgendwie vage bekannt vorkam.
    Sechzehn der siebzehn Kinder starrten Mrs Oliver hilflos an, einige mit Tränen in den Augen, alle auf Anweisungen wartend, was sie tun sollten. Die monatlichen Tornado- und Feuerübungen hatten sie nicht auf diese Situation vorbereitet. Nicht einmal die Übungen zur Alarmstufe Rot hätten sie auf den überraschend ruhig, wenn auch ein wenig manisch aussehenden Mann vorbereiten können, der eine Pistole locker in der Hand hielt. Nur ein Kind, P. J. Thwaite, der Sohn ihrer ehemaligen Schülerin Holly Thwaite, starrte den Mann unverwandt an, musterte sein Gesicht ganz genau, nicht so, als wenn er ihn kennen würde, sondern als wenn er ihn irgendwo zuvor schon einmal gesehen hätte. Der Mann starrte zurück, seine Miene ausdruckslos, was Mrs Oliver nur noch mehr verunsicherte.
    Mrs Oliver wusste nicht mehr, wie oft sie als Klassenlehrerin schon gelassen und kontrolliert hatte wirken müssen, obwohl ihr gar nicht danach zumute gewesen war. Da war das eine Mal, in ihrem ersten Jahr als Lehrerin, als der siebenjährige Bert Gorse sich entschied, auf die große metallene Rutsche zu klettern und zu versuchen, von dort mit einem beherzten Sprung nach einem Ast des nahe stehenden Ahorns zu greifen. Mrs Oliver erinnerte sich, wie sie mit Entsetzen von der anderen Seite des Spielplatzes hatte zuschauen müssen, wie Bert in die Luft sprang, seine Hände nach dem Ast ausstreckte und mit den Fingernägeln über die raue Borke kratzte. »Um Himmels willen!«, hatte sie geschrien. »Mach die Augen auf!« Bert hatte es nicht geschafft, den Ast zu greifen, und war knapp vier Meter hinab auf die harte Erde gefallen. Ganz ruhig hatte Mrs Oliver daraufhin dem jungen Mädchen, das neben ihr stand, aufgetragen, so schnell sie konnte in die Schule zu laufen und Hilfe zu holen.
    »Sie haben geflucht«, hauchte das Mädchen ungläubig.
    Mrs Oliver beugte sich so weit zu ihr herunter, dass sie das Erdnussbutter-Sandwich riechen konnte, welches das Kind zum Mittagessen gehabt hatte, und sagte mit der leisen, ruhigen Stimme, die allen Kindern in den kommenden vierzig Jahren deutlich machen würde, dass sie es ernst meinte: »Lauf.« Dann versuchte sie, in ihren neuen Pumps möglichst anmutig den Spielplatz zu

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