Bis zum letzten Atemzug
Streifenwagen und fahre die Hickory Street in Richtung Schule hoch. Ich bin froh, mich mit etwas beschäftigen zu können, das meine Gedanken von den vier freien Tagen ablenkt, die ohne Maria endlos lang vor mir liegen und in mir ein Gefühl der Leere entstehen lassen. Tim sagt immer, er kann sich nicht vorstellen, wie ich als Kind war. Die wenigen Bilder, die ich von mir aus dieser Zeit besitze, zeigen mich als ernste, nicht lächelnde Gestalt mit ungekämmten Haaren und in einer alten Jeans meines Bruders Travis.
»Hattest du jemals Spaß?«, hatte Tim mich aufgezogen, als er die Fotos zum ersten Mal gesehen hatte.
»Ja, ich hatte Spaß«, hatte ich protestierend erwidert, obwohl das gelogen war. Meine Kindheit bestand darin, mich um meine Eltern zu kümmern – die, aus mir immer noch unbekannten Gründen, komplett vom Leben bezwungen worden waren – und zu versuchen, meinem gewalttätigen Bruder aus dem Weg zu gehen. Als Tim und ich Maria bekamen, war ich entschlossen, ihre Kindheit so sorgenfrei und fröhlich zu gestalten, wie es meine niemals gewesen war. Ich glaube, das haben wir ganz gut hinbekommen, zumindest bis zur Scheidung, und selbst danach haben Tim und ich immer versucht, Maria zu beschützen. Wir haben nicht vor ihr gestritten, wir haben nicht schlecht über den anderen geredet, aber sie wusste es trotzdem. Wie auch nicht? Selbst wenn wir aus dem Ende unserer Ehe kein großes Spektakel gemacht haben, musste sie meine roten, geschwollenen Augen gesehen und Tims angestrengtes, gezwungenes Lachen gehört haben.
Innerhalb weniger Minuten bin ich an der Schule und sehe Chief McKinney und Aaron Gritz – was komisch ist, weil er heute gar keinen Dienst hat –, die sich bemühen, eine kleine, wütend aussehende Menschengruppe vom Eingang fernzuhalten. Chief McKinneys tiefer Bariton dröhnt über den Hof.
»Steigen Sie wieder in Ihre Autos, sonst erfrieren Sie noch hier draußen. Wir müssen erst einmal herausfinden, was genau los ist, und das können wir nicht, wenn wir uns um Sie kümmern müssen …«
Eine Frau tritt vor, winkt mit ihrem Handy und unterbricht den Chief mit zittriger Stimme. »Mein Sohn hat mich gerade aus, dem Inneren der Schule angerufen. Er sagt, da ist ein Mann mit einer Pistole. Können Sie die Kinder nicht da rausholen?«
»Aufgrund der uns vorliegenden Informationen«, erwidert Chief McKinney geduldig, »haben wir beschlossen, dass es am besten ist, das Gebäude zu umstellen und zu diesem Zeitpunkt noch keine Officer in die Schule zu schicken.«
»Aber mein Sohn hat angerufen und gesagt, es sind zwei Männer«, schaltet sich eine andere Frau ein.
Ein Mann in Hemd und Krawatte, aber ohne Mantel drängt sich vor. »Ich habe gehört, es hat eine Bombendrohung gegeben. Evakuieren Sie die Schule?«
»Das ist genau das Problem«, sagt Chief McKinney mit leiser Stimme zu mir und zeigt dabei erst auf die Schule und dann auf die Menschen. Schneeflocken sammeln sich in seinem struppigen grauen Schnurrbart. »Wir können nicht anfangen, herauszufinden, was da drinnen vor sich geht, solange wir hier draußen Gerüchten nachjagen.« Er dreht der Menge den Rücken zu und senkt seine Stimme zu einem Flüstern. »Meg, die Zentrale hat einen Anruf von einem Mann erhalten, der behauptet, sich mit einer Waffe im Gebäude zu befinden. Er sagt, alle sollen draußen bleiben, sonst fängt er an zu schießen. Ich will, dass die gesamte Schule mit Absperrgittern und Flatterband abgeriegelt wird.« Er wendet sich an Gritz. »Aaron, sorg dafür, dass alle gut hundert Meter zurückgehen.«
»Okay, Leute«, sagt er dann mit fester, beherrschter Stimme. »Bitte folgen Sie Officer Gritz’ Anweisungen. Wir müssen uns an die Arbeit machen. Ich verspreche, wenn es Neuigkeiten gibt, werden wir Sie sofort darüber in Kenntnis setzen.«
Ich weiß, woran all diese Eltern denken. An das Attentat in Columbine. Das ist mir auch schon in den Sinn gekommen. Columbine hat die Reaktion der Polizeikräfte auf derartige Vorfälle von Grund auf verändert. Wenn wir Beweise dafür hätten, dass der Eindringling in der Schule bereits angefangen hat zu schießen, hätte der Chief sofort eine Sondereinheit hineingeschickt. Zum Glück ist das bisher nicht der Fall. Da der Verdächtige in der Zentrale angerufen und gedroht hat, die Schüler und jeden, der das Gebäude betritt, zu erschießen, behandeln wir das Ganze wie eine Geiselnahme. Das bedeutet, wir werden versuchen, Kontakt mit dem Eindringling aufzunehmen, um
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