Bis zum letzten Atemzug
Krankenschwestern und meine Mutter an meine Seite eilen und mir das Telefon aus den verkrampften Fingern nehmen.
AUGIE
Meine Hose ist immer noch feucht. Nachdem wir heute Morgen aus dem Schulbus gestiegen waren, hat Noah Plum mich von dem geräumten Fußweg in eine Schneewehe geschubst. Noah Plum ist das größte Arschloch in der achten Klasse, aber aus irgendeinem Grund bin ich die Einzige, die bisher dahintergekommen ist, dabei wohne ich hier erst seit acht Wochen und die anderen schon ihr ganzes Leben. Abgesehen vielleicht von Milana Nevara, deren Dad aus Mexiko stammt und der hier der örtliche Tierarzt ist. Sie ist hergezogen, als sie zwei war, also könnte sie eigentlich genauso gut hier geboren worden sein.
Im Klassenzimmer ist es so kalt, dass meine Finger ganz taub sind. Mr Ellery sagt, das liegt daran, dass es Ende März nicht mehr unter null Grad sein sollte und die Heizungsanlage schon abgeschaltet worden sei. Mr Ellery, mein Lehrer und eine der wenigen guten Sachen an dieser Schule, sitzt an seinem Tisch und korrigiert Arbeiten. Abgesehen von Noah schreiben alle in ihre Hefte. Jeden Tag nach dem Mittagessen beginnen wir diese Stunde damit, in unsere Tagebücher zu schreiben. Während dieser ersten zehn Minuten können wir über alles schreiben, was wir wollen. Mr Ellery sagte, wir können sogar die ganze Zeit über immer nur das gleiche Wort wiederholen, und Noah fragte: »Was, wenn es ein schlimmes Wort ist?«
»Tu, was du nicht lassen kannst«, hat Mr Ellery geantwortet, und alle lachten. Mr Ellery gewährt uns auch immer ein paar Minuten, um das, was wir geschrieben haben, laut vorzulesen, wenn wir es wollen. Ich will das nie. Auf gar keinen Fall werde ich diese Schwachköpfe an meinen Gedanken teilhaben lassen. Ich habe »Harriet, die kleine Detektivin« gelesen und trage mein Tagebuch dementsprechend immer bei mir. Nie lasse ich es aus den Augen.
In meiner alten Schule in Arizona gab es über zweihundert Achtklässler in meiner Stufe, und für jedes Fach hatten wir einen anderen Lehrer. In Broken Branch sind wir nur zweiundzwanzig und haben fast jedes Fach bei Mr Ellery. Abgesehen davon, dass er ziemlich süß ist, ist Mr Ellery auch der beste Lehrer, den ich je gehabt habe. Er ist witzig, macht sich aber nie über andere lustig, und er ist auch nicht so sarkastisch wie andere Lehrer, die das urkomisch finden. Er lässt auch nicht zu, dass andere Kinder gemobbt werden. Er muss den Übeltäter nur streng angucken, und sofort herrscht Ruhe. Das funktioniert selbst bei Noah Plum.
Für den Fall, dass wir nicht wissen, was wir in unser Tagebuch schreiben sollen, schreibt Mr Ellery immer ein Thema an die Tafel. Heute steht da: »Während der Frühlingsferien werde ich …«
Heute funktioniert Mr Ellerys Blick nicht; alle flüstern und kichern, weil sie wegen der bevorstehenden Ferien so aufgeregt sind. »Okay, Leute«, sagt Mr Ellery. »Macht euch an die Arbeit. Wenn wir nachher noch ein wenig Zeit übrig haben, spielen wir Pictionary.«
»Jaaa!«, jubeln die Kinder um mich herum. Großartig. Ich schlage mein Tagebuch auf der nächsten leeren Seite auf und beginne zu schreiben.
»Während der Frühjahrsferien werden wir nach Arizona fliegen, um unsere Mutter zu besuchen.« Die einzigen Geräusche im Raum sind das Kratzen der Stifte auf Papier und Erikas nervtötendes Schniefen. Sie hat immer eine laufende Nase und steht zwanzigmal am Tag auf, um sich ein Taschentuch zu holen. »Es ist mir egal, ob ich jemals wieder Schnee oder Kühe sehen werde. Es ist mir auch egal, ob ich meinen Großvater jemals wiedersehe.« Ich hoffe mit aller Macht, dass es meiner Mutter wieder so gut geht, dass wir nach den Ferien nicht nach Broken Branch zurückkehren müssen. Mein Großvater sagt immer, das wird nicht passieren. Meine Mutter ist noch lange nicht so weit, aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Sie wird in Arizona bleiben, bis es ihr gut genug geht, um mit dem Flugzeug hierherzukommen, damit Grandma und Grandpa, die ich vor ein paar Monaten zum ersten Mal in meinem Leben gesehen habe, sich um uns alle kümmern können. Aber mir ist egal, was Grandpa sagt – nach den Ferien werde ich nicht nach Broken Branch zurückkehren.
Ein scharfes Knacken, wie ein brechender Zweig während eines Eissturms, lässt mich von meinem Heft aufschauen. Mr Ellery hat es auch gehört und steht hinter seinem Tisch auf. Er geht zur Tür, tritt in den Korridor hinaus und kommt mit einem Schulterzucken wieder herein. »Sieht so
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