Bisduvergisst
wenn das da draußen erst einmal vorbei ist. Wenn wir wieder denken dürfen. Du willst keine Erklärungen, oder? Du suchst Trost, Liebe, Wärme, Zärtlichkeit. Weil die Burschen alle weg sind, gefangen oder tot, halten wir uns gegenseitig in den Armen. Weine nur, mein Täubchen, bist ja doch meine Freundin, auf immer und ewig. Wir sind ganz verschieden. Und wünschen uns dasselbe: dass es endlich ein Ende hat. Dass wir wieder normal leben. Uns verlieben. War da nicht der Sohn vom Michelbacher? Wie hieß der? Habe ich vergessen, obwohl ich zum Außendienst auf dem Hof abgeordnet war. Und du weinst viel zu heftig, um es mir sagen zu können. Egal, Lisa, ich weiß, wen du meinst.
Ja, der Bursche war fesch. Bis sie ihm einen Arm, ein Bein und ein Auge weggeschossen haben. Und als er aus dem Lazarett kam, zusammengeflickt, als er sich mit letzter Kraft nach Hause schleppen wollte, da haben ihn die Bomben erwischt. Hilft nichts, Lisa. Der Bursche, der kommt nicht wieder, und wir wissen nicht, wer überhaupt übrig bleibt. Der Michelbacher hat doch noch einen zweiten Sohn. Emil, der nicht ins Feld der Ehre geschickt wurde, weil er diese Anfälle kriegt. Der ist höchstens ein Jahr jünger als du, Lisa. Wenn der dich nimmt, dann hast du wenigstens den Bruder deiner großen Liebe. Schau, ich streichle dein Haar, Lisachen. Das magst du doch. Dann schnurrst du wie ein Kätzchen.
Ich suche mir einen Amerikaner. Später, wenn es vorbei ist. Und dann haue ich ab und schreibe dir jede Woche aus Chicago oder Philadelphia oder San Francisco und schicke Schokolade und andere Leckereien, und beide werden wir fett wie die …
Pssst, Lisa, Täubchen, gleich beschwert sich jemand. Mit der Kameradschaftsältesten sollte man besser keinen Streit anfangen. Schluchze leise, leise, und komm, hier ist deine Decke, du zitterst ja.
Na gut, dann kuscheln wir uns zusammen in dein Bett. Wärmen uns aneinander. Und irgendwann hast du so viel geweint, dass du müde bist, wie betäubt, und dann schläfst du endlich ein.
Donnerstag, 25.6.09
Man lernt nur dann und wann etwas,
aber man vergisst den ganzen Tag.
Arthur Schopenhauer
5
Das Mädchen war in einer Pfütze ertrunken.
Mädchen, na ja, dachte Magnus Kreuzkamp und machte sich flugs Notizen. Junge Frau, das passt eher, maximal 20, kostümiert als Spielfrau, blaues Kleid, langärmelig, weiße Manschetten bis über den Handrücken. Blondes, glattes Haar, lang, bis fast zu den Hüften. Buntes Schultertuch.
Kreuzkamp beugte sich über die Leiche. Das Gesicht lag frontal, bis zu den Schläfen im lehmigen Wasser, die Nase war geradezu in den Schlamm am Boden der Pfütze gebohrt worden. Arme und Beine grotesk verrenkt. Das Buchskränzchen trieb im Wasser, noch am Gürtel der jungen Frau befestigt, wie es Brauch war: ein Zeichen der Freundschaft. Neben dem weiß-roten Bändchen waren zwei kleine Rosenknospen eingeflochten.
Die riesige Pfütze hatte sich gebildet, weil die steinerne Rinne, die vor dem Durchgang zur Burg den Boden durchkreuzte, übergelaufen war – vermutlich war der Ablauf verstopft. Die Lache bedeckte fast den gesamten Treppenabsatz.
»Zu viel Regen die letzten Tage«, murmelte der Reporter. ›Wahrscheinlich Mord‹, notierte er und spürte, wie jemand auf seine Schulter tippte.
»Schon gut«, sagte Kreuzkamp. »Eure Kollegen von der grünen Truppe haben mich durchgelassen. Ich habe nichts angefasst, habe sie nicht mal fotografiert, Leitner!«
Hauptkommissar Michel Leitner musterte den Reporter, der ihm bei jeder Begegnung mehr wie ein Cary-Grant-Verschnitt vorkam, und sagte nur: »Passt schon. Aber jetzt schleichst du dich. Jetzt sind wir am Zug.«
Kreuzkamp-Grant hob die Hand und ging davon, schlüpfte unter den Absperrbändern durch und joggte die schmale Treppe hinunter. Endlich eine Story. Eine richtige Story. Nicht nur Landshuter Hochzeit. Nicht nur Ringelstechen, Marktgrafen und Buchskranzln. Er konnte das Wort nicht einmal richtig aussprechen. Sein Rucksack baumelte schwer an seiner linken Schulter. Beschwingt trabte Kreuzkamp in die Redaktion.
6
»Das tote Mädchen ist Julika Cohen«, sagte die Ärztin. »Sie ist dieses Jahr zum ersten Mal Hochzeiterin.«
»Woher weißt du das, Elke?«, fragte Michel Leitner. Sie saßen im Grünen, an der Straße nach Niederaichbach. Das tote Mädchen war in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Leitners Kollegen brauchten eine Verschnaufpause. Und Leitner eine Zigarette. Mindestens eine. Er drehte selber. In seinen
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