Bisduvergisst
Tao des Tussock-Grases – Verbinde dich mit allem, was ist interessieren könnte …‹
Ich verbrühte mir die Lippen am Kaffee und fluchte laut. Rasch tippte ich die Antwort, verwies darauf, momentan ausgebucht zu sein, was ich bedauerte, versicherte aber, dass ich mich über eine zukünftige Zusammenarbeit freuen würde, und drückte auf ›senden‹. Ganz schön befreiend, wenn auch geschäftsschädigend. Beinahe war ich drauf und dran, Lynn Digas, meine frühere Agentin, anzurufen. Als ich noch als Reisejournalistin tätig gewesen war, hatte Lynn mir die spannendsten Aufträge zugeschanzt. Seit ich vornehmlich als Ghostwriterin arbeitete, waren wir kaum mehr ins Geschäft gekommen. Doch plötzlich erschien mir die Vorstellung geradezu verlockend, eine kleine Reportage über Campen im Kaukasus zu schreiben.
Ich ging ins Bad. Das typische Problem, wenn man zu Hause arbeitete. An Ablenkung fehlte es nie. Ich stand vor dem Spiegel, musterte mein Gesicht, das lange, dunkle Haar, das ein wenig wirr um meinen Kopf stand, die dunklen Augen, fragte kurz, welche Sehnsüchte daraus hervorlugten, und wusch mir zur Abwechslung die Hände. Verdammte Buddha-Diät. Was passierte wohl, wenn ich den Auftrag platzen ließe? Juliane würde sagen: Nichts, Herzchen, nichts wird passieren. Neue Aufträge werden kommen. So einfach ist es.
Ach, Juliane. Sie wurde in einem Monat 78 alt. Für mich war sie beste Freundin, Beraterin, Mutterersatz, Ruferin in der Wüste und Kupplerin mit Erfolgsquote. Dass Nero und ich zueinandergefunden hatten, ging auf Julianes Konto. Oft genug wies sie mich darauf hin, dass ich ihr über den Tod hinaus zu Dankbarkeit verpflichtet wäre. Momentan allerdings hielt sie sich bei ihrer Schwester Dolly auf, die zwar ein paar Jahre jünger als Juliane war, aber mit allerhand Zipperlein kämpfte. Ich war kurz davor, Juliane anzurufen, um ihr mein Leid mit der Buddha-Diät zu klagen, als das Telefon klingelte. Ich flitzte ins Arbeitszimmer zurück. Vielleicht meldete sich Nero aus dem Off der Nullen und Einsen.
»Laverde«, meldete ich mich.
»Mein Name ist Irma Schwand«, sagte eine feste Stimme mit unverkennbar niederbairischem Einschlag. »Würden Sie ein Buch für mich schreiben?«
Manchmal konnte ich mich vor Angeboten kaum retten.
»Um welche Art Buch handelt es sich denn?«
»Um meine Lebensgeschichte.« Die Frau lachte.
Ich versuchte, ihr Alter zu schätzen. Vielleicht 50, nicht älter als 60.
»Sie haben mir diese Diagnose gegeben, verstehen Sie? Alzheimer, haben sie gesagt. Wie wollen die das wissen? Aber ich muss mich doch erinnern, wenigstens … na, ich kann doch nicht alles vergessen. Dann hätte ich ja umsonst gelebt, wie?«
Mir blieb die Spucke weg. Alles, was ich nun sagen würde, käme ziemlich dumm rüber. Deswegen atmete ich erst einmal durch, und in die peinliche Pause hinein sagte Irma Schwand: »Keine Angst, noch bin ich nicht umnachtet. Wird noch ein bisschen dauern.«
Als Ghostwriterin nahm ich hin und wieder Aufträge an, die darauf hinausliefen, die Erinnerungen eines Menschen in einem Buch zu konservieren. Ich war dann keine Biografin, die Daten abklärte und einen zeitgeschichtlichen Hintergrund auferstehen ließ. Sondern mehr ein Personal Historian, eine private Chronistin. Eine Schneiderin für das individuelle Lebenskleid eines Menschen. Ich bewahrte sein Andenken in der Form, in der der Kunde es wünschte. Aber was bedeutete eine Alzheimer-Diagnose? Hieß das nicht, die Frau würde in Kürze in die Nebel des Vergessens stürzen? Wie viele lichte Momente würde ich brauchen, um ihre Geschichte zu verfassen? Zeitmangel war mir nicht unbekannt. Etliche Möchtegernautoren suchten sich erst dann einen Ghostwriter, wenn es brannte, wenn sie außer eselsohrigen Notizblättern nichts zustande gebracht hatten und ihnen eine Frist im Nacken saß. Und was war das überhaupt für eine Geschichte, die sie zu erzählen hatte?
Ich dachte an die Buddha-Diät und sagte: »Von wo rufen Sie an? Können wir uns treffen?«
»Ich wohne in Landshut.«
Gut. Das bedeutete eine gute Stunde Autofahrt. »Wann …«
»Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich will Ihnen nur eine einzige Geschichte erzählen. Dazu brauchen wir einen Abend, vielleicht zwei. Bei einem guten Glas Wein redet es sich besser. Wein löst die Zunge, nicht wahr?«
Einen Abend? Vielleicht zwei? Für eine anständige Autobiografie benötigte ich üblicherweise 40 bis 50 Interviewstunden, verteilt auf ungefähr
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