Meagan McKinney
1
Natürlich regnete es.
Alice Diana
van Alen blickte durch das dünne Spitzengewebe an ihrem Schlafzimmerfenster
hinab auf den Washington Square, den die hereinbrechende Nacht und der Sturm in
Dunkelheit tauchten. Dort unten prasselte der Regen auf die Straße und strömte
über das Fischgrätmuster des Kopfsteinpflasters. In der Höhe zerrte der Wind an
den dürren, kahlen Ästen der Bäume, so daß das Licht der Gaslaternen durch die
sich wiegenden Wipfel hindurchflackerte. Keine Menschenseele war zu sehen.
Selbst der Droschkenstand war leer. Jede Kutsche war unterwegs, um vom Unwetter
überraschten Fußgängern zu befördern.
Sie starrte
durch die nassen Fensterscheiben und hatte die Arme fest um sich gelegt, als ob
sie frieren würde. Der Sturm war ein Zeichen. Aber obwohl sie davon überzeugt
war, konnte sie ihren Entschluß nicht ändern. Sie würde heute abend zu dem Ball
gehen.
Ein
kleines, bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen. Auch der Traum der letzten
Nacht war ein Zeichen. Sie hatte diesen Traum so lange nicht mehr geträumt,
daß sie ihn fast vergessen hatte. Doch ihre Ängste und Sorgen um den heutigen
Abend schienen ihn
wieder aus ihrem tiefsten Unterbewußtsein heraufbeschworen zu haben. Der Traum
war immer gleich, und selbst jetzt fiel es ihr schwer, seinen Eindrücken zu
widerstehen.
Als sie
sich schließlich seinen Bildern ergab, bekamen ihre grünen Augen einen warmen
Glanz, und sie schien sich plötzlich in weiter Ferne zu befinden.
Eine
heftige Bö ließ den Regen an ihr Fenster klatschen und holte sie in die
Wirklichkeit zurück. Verärgert, daß sie zu so einer wichtigen Stunde in Träumereien
schwelgte, wandte sie sich vom Fenster ab und ging zu ihrem Ankleidetisch, der
mit einem kostbaren Spitzentuch bedeckt war. Wieder dachte sie an ihren Traum,
und der Luxus der Raumeinrichtung stieß sie fast ab. Das Schlafzimmer war
wunderschön und ausgestattet mit allen Dingen, die eine vermögende junge Frau
sich nur wünschen konnte. Ein Blick auf den Frisiertisch zeigte dies deutlich.
Er war nierenförmig und derart verschwenderisch mit teurer französischer Spitze
dekoriert, daß er fast schon gepolstert wirkte. Sein weicher, mit rosa Samt
bezogener Hocker wartete auf sie wie ein Thron, aber plötzlich mochte sie sich
nicht mehr setzen. Ihre Umgebung war ein schockierender Gegensatz zu dem
einfachen, bezaubernden Ambiente aus ihrem Traum.
Das weiße,
schindelgedeckte Haus war das, wovon sie immer geträumt hatte. Wie letzte
Nacht. Es war so einfach und so bescheiden, daß sich die meisten in ihrer
gesellschaftlichen Schicht sogar geschämt hätten, davon zu träumen. Ganz zu
schweigen von dem Wunsch, in so einer Behausung zu wohnen.
Aber sie
wünschte es sich. Leidenschaftlich. Sie liebte dieses kleine weiße Haus, das
sich auf dem grünen Hügel unter dem strahlenden blauen Himmel duckte. Sie
hatte niemals so ein Haus gesehen, aber doch so oft daran gedacht, daß sie
glaubte, den Duft der Apfelblüten wahrzunehmen, der vom Vorgarten
herübergeweht kam und das Knattern der weißen Laken im Wind zu hören, die sie
hinter dem Haus auf der Leine vermutete. Sie liebte dieses Haus weniger dafür,
was es war, sondern vielmehr dafür, was es enthielt.
Sie schloß
ihre Augen und versuchte, ihre Gedanken anzuhalten. Was hatte sie davon, sich
in Träumereien zu ergeben? Sie würden nicht wahr werden. Wenn sie sich danach
sehnte, würde sie nur unglücklich sein. Sie öffnete die Augen und machte einen
weiteren Versuch, sich an den Tisch zu setzen. Doch wieder schien der Luxus
ihres Schlafzimmers sie zu überwältigen.
Angewidert
betrachtete sie die erdrückend großen Rosen auf der Tapete, die protzigen
Chintzstoffe auf den Möbeln, die schweren rosa Samt- und Seidendecken, die ihr
Himmelbett einhüllten. Es war alles falsch! Sicher, sie war in diesem Raum
aufgewachsen. Doch sie wußte, daß es für sie nicht mehr richtig war. Nun
wollte sie etwas anderes. So etwas wie die grünen Hügel, den blauen Himmel, das
weiße Häuschen. Ihn.
Ihre Augen
verdunkelten sich. Er war stets da, in ihren Träumen – finster, übermächtig,
unerreichbar. Er hatte die Gestalt eines attraktiven Mannes, der mit
verschränkten Armen lässig an einem der weißgekalkten Zaunpfähle lehnte und
die Landschaft hinter ihr betrachtete. In ihren Träumen beobachtete sie ihn
immer vom Fuße des Hügels, ohne zu wissen, wer er war, und
begierig darauf, mehr Einzelheiten seines Gesichts zu erkennen, das durch
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