Bis(s) 1 - Bis(s) zum Morgengrauen
Schatten – violett, wie von einem Bluterguss. Sie sahen aus, als hätten sie samt und sonders eine schlaflose Nacht oder einen noch nicht ganz verheilten Nasenbruch hinter sich. Obwohl ihre Nasen andererseits, wie alle ihre Gesichtszüge, gerade und perfekt geformt waren.
Aber auch das war nicht der Grund, warum ich meinen Blick nicht abwenden konnte.
Ich starrte sie an, weil ihre so verschiedenen und doch gleichen Gesichter umwerfend und überirdisch schön waren. Es waren Gesichter, die man normalerweise nur auf den Hochglanzseiten von Modemagazinen zu sehen erwartete. Oder auf den Gemälden alter Meister, als Engelsgesichter. Schwer zu sagen, wer am schönsten war – vielleicht das blonde Mädchen, vielleicht auch der Junge mit den bronzefarbenen Haaren.
Alle schauten in verschiedene Richtungen, ohne jedoch, soweit ich das beurteilen konnte, irgendwas Bestimmtes ins Auge zu fassen. Während ich in ihren Anblick versunken war, erhob sich das kleinere Mädchen mit seinem Tablett – sein Getränk war ungeöffnet, sein Apfel unberührt – und ging mit langen, schnellen und eleganten Schritten davon, als wäre die Cafeteria ein Laufsteg. Es waren die geschmeidigen Schritte einer Tänzerin. Ich folgte ihr mit den Augen, bis sie ihr Tablett abstellte und mit einer Geschwindigkeit zur Hintertür hinausglitt, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Mein Blick schnellte zurück zu ihren Tischgenossen, die so reglos dasaßen wie vorher.
»Wer sind denn die dort?«, fragte ich das Mädchen aus meinem Spanischkurs, dessen Namen ich vergessen hatte.
Obwohl sie es an meinem Tonfall wahrscheinlich schon gehört hatte, blickte sie auf, um zu sehen, wen ich meinte; im gleichen Moment schaute sie einer von ihnen plötzlich an – der Dünne, der Jungenhafte, der vielleicht Jüngste. Für Bruchteile einer Sekunde lag der Blick seiner dunklen Augen auf ihr, dann huschte er weiter zu mir.
Er schaute schnell wieder weg, viel schneller, als ich es konnte, obwohl ich sofort verlegen meine Augen niederschlug. In seinem kurzen Blick lag keinerlei Interesse – es war, als hätte sie seinen Namen gerufen und er hätte unwillkürlich aufgeschaut, ohne die Absicht, eine Antwort zu geben.
Meine Nachbarin kicherte verschämt und guckte auf die Tischplatte, genau wie ich.
»Das sind Edward und Emmett Cullen, und Rosalie und Jasper Hale«, flüsterte sie. »Das Mädchen, das gegangen ist, war Alice Cullen; sie leben alle bei Dr. Cullen und seiner Frau.«
Aus den Augenwinkeln betrachtete ich weiter den schönen Jungen, der seinen Blick jetzt auf das Tablett gesenkt hatte und mit langen blassen Fingern einen Bagel zerrupfte. Seine perfekten Lippen waren kaum geöffnet, doch zugleich bewegte sich sein Mund sehr schnell. Und obwohl die drei anderen ihn nicht anschauten, hatte ich das Gefühl, als würde er leise auf sie einreden.
Seltsame Namen, dachte ich. Namen von Außenseitern. Von Großeltern. Aber vielleicht waren die hier beliebt? Kleinstadtnamen? Mir fiel endlich wieder ein, wie meine Tischnachbarin hieß: Jessica. Ein ganz normaler Name. In meinem Geschichtskurs zu Hause hatte es zwei Jessicas gegeben.
»Sie sind … sehr hübsch.« Ich rang mit dem offensichtlichen Understatement.
»Ja, nicht?!«, stimmte Jessica zu und kicherte erneut. »Sie sind aber alle zusammen – ich meine, Emmett und Rosalie, und Jasper und Alice. Und sie wohnen zusammen.« Die ganze Entrüstung der Kleinstadtbewohner klang darin mit, dachte ich missbilligend. Aber wenn ich ehrlich war – selbst in Phoenix würden die Leute darüber tratschen.
»Welche sind die Cullens?«, fragte ich. »Sie sehen sich gar nicht ähnlich …«
»Sie sind auch nicht wirklich verwandt. Dr. Cullen ist selber noch ganz jung, Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Sie sind alle adoptiert. Die Hales – die beiden Blonden – sind tatsächlich Geschwister, Zwillinge. Sie sind Pflegekinder.«
»Sie sehen ein bisschen alt aus dafür.«
»Mittlerweile schon, Jasper und Rosalie sind beide achtzehn, aber sie sind schon bei Mrs Cullen, seit sie acht waren. Sie ist ihre Tante oder so ähnlich.«
»Das ist wirklich nett von ihnen. Ich meine, die ganzen Kinder aufzunehmen, wenn sie selber noch so jung sind.«
»Ja, klar«, stimmte Jessica widerwillig zu, und ich hatte das Gefühl, dass sie den Doktor und seine Frau aus irgendeinem Grund nicht mochte. Den Blicken nach zu urteilen, die sie den vieren am Tisch zuwarf, war es Eifersucht. »Aber ich glaub, Mrs Cullen
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