Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
1. KAPITEL
In der Nacht mochte Krupka die Raffinerie besonders. Dann ging im matten Schein der vielen Lampen von dem gewaltigen menschengemachten Dschungel aus Kesseln, Rohren und Schloten eine Faszination aus, der Krupka sich nicht entziehen konnte, trotz seiner eher nüchternen Veranlagung. Schon als Kind war er vernarrt gewesen in alle Arten von technischen Konstruktionen. Als sein Vater ihm zu Weihnachten eine dieser messingfarbenen Spielzeugdampfmaschinen geschenkt hatte, war das wie ein Stück vom Himmel gewesen. Später hatte es nicht für ein Ingenieurstudium gereicht. Stattdessen war Krupka zur Bundeswehr gegangen, wo er sich bis zum Hauptfeldwebel hinaufgebrüllt hatte. Danach verlegte er sich darauf, jene Industrieanlagen zu bewachen, die ihn so faszinierten. Er besaß eine natürliche Gabe für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, und diese Gabe hatte ihm zu seinem jetzigen Job verholfen.
Auf diesen Job war er stolz. Mit neununddreißig Leiter des Werkschutzes einer der größten und modernsten Raffinerien Europas. Das konnte sich doch sehen lassen! Was Sicherheitsfragen anging, war die Raffinerie sein Reich. Und Krupka legte Wert darauf, sein Geld durch gute, gewissenhafte Arbeit zu verdienen. Diese Haltung war vermutlich das Beste, das sein Vater ihm mit auf den Weg gegeben hatte.
Leider wurde es immer schwerer, für den Werkschutz Leute zu finden, die dieses Pflichtbewusstsein verinnerlicht hatten oder die zumindest die Hoffnung weckten, dass es sich ihnen mit der Zeit einbläuen ließ. Am schlimmsten waren Personen, die sich nicht selbst bewarben, sondern vom Arbeitsamt hergeschickt wurden. Solche Gestalten wie Sempold, der jetzt neben Krupka herschlurfte wie ein Schlafwandler. Vor ein paar Minuten hatte Krupka ihn angeschnauzt: »Sie würden einen Einbrecher nicht mal bemerken, wenn er sich vor Sie hinstellt und Ihnen die Zunge rausstreckt!« Doch dieser Anschiss hatte die erwünschte aufrüttelnde Wirkung verfehlt. Er hatte überhaupt keine erkennbare Wirkung auf Sempold, der weiterhin mit halb geschlossenen Augen vor sich hin schlich, sodass es aussah, als würde Rigoletto ihn hinter sich herziehen. Krupka hatte keine Ahnung, wer dem Schäferhund diesen dämlichen Namen verpasst hatte. Rigoletto gehörte zum Inventar, das Krupka in der Raffinerie vorgefunden hatte. Die Schäferhunde zu führen zählte zu den Aufgaben, mit denen Sempold sich vertraut zu machen hatte, doch dem schien jedwedes Führungstalent vollkommen abzugehen. Krupka überlegte, wann er Sempold rausschmeißen sollte. Noch heute Nacht? Morgen? Nächste Woche? Es kam überhaupt nicht infrage, ihn über die Probezeit hinaus zu behalten.
Aber er konnte Sempold jetzt nicht hinauswerfen. Jürgens und Riemenschneider hatten sich krankgemeldet – diese jungen Kerle waren wie die Mimosen, eine Erkältung, und sie rannten zum Doktor. Krupka fand es ungeheuerlich, dass die Ärzte diese Schwächlinge auch noch unterstützten und sie immer wieder krankschrieben. Das war der Grund, warum Krupka, der als Leiter des Werkschutzes nachts normalerweise nur Rufbereitschaft hatte, in dieser Nacht selbst einspringen musste.
Ihr Kontrollgang führte sie an der Claus-Anlage mit ihren senkrecht stehenden Kesseln und dicken, sich wie mächtige Riesenschlangen windenden Rohren vorbei, wo der giftige Schwefelwasserstoff in Schwefel und Wasserdampf umgewandelt wurde.
Für einen Moment dachte Krupka an den Streit, den er gestern, wieder einmal, mit seinem Sohn gehabt hatte. Der hielt Krupka immer wieder vor, wie er denn angesichts ständiger Tankerunglücke und der Klimakatastrophe überhaupt noch in einer Ölraffinerie arbeiten könne. Krupka interessierte sich nicht für Politik. Aber fest stand, dass alle verdammt gut von und mit dem Öl lebten, das durch die Pipelines von Rotterdam und Wilhelmshaven hierher nach Köln gepumpt wurde. Und keiner von den jungen Leuten wollte doch ernsthaft auf die Annehmlichkeiten verzichten, die das Öl brachte: Mopeds und Autos und die vielen netten Spielzeuge aus Kunststoff – Computer, Playstations und Handys.
Na, immerhin brachte der Junge gute Noten nach Hause, stand kurz vor dem Abitur. Wenn er nur etwas Ordentliches studierte, einen anständigen Beruf erlernte. Dieses Rebellentum war gewiss nur eine vorübergehende Phase. Krupka musste grinsen. Er selbst war früher zeitweise auch verdammt aufsässig gegen seinen Vater gewesen. Das gehörte zum Erwachsenwerden dazu. Wer weiß, vielleicht ist der Junge stärker
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