Die Überlebenden der Kerry Dancer
Erstes Kapitel
W ie ein Leichentuch lag der schwarze Rauch über der sterbenden Stadt, lastend, dicht und undurchdringlich. Er überzog und verhüllte jedes Gebäude, ob Geschäftsblock oder Wohnhaus, unbeschädigt oder ausgebombt, alles wurde unkenntlich in der dunklen Vermummung seines langsamen Kreisens. Jede Straße, jede Gasse, jedes Hafenbecken war voll davon, überschwemmt vom Rauch. Er lag überall, schweflig und böse, kaum bewegt vom leisen Hauch der tropischen Nacht.
Am Abend, als der Rauch nur von den brennenden Gebäuden in der Stadt gekommen war, hatte er noch breite, unregelmäßige Spalten offen gelassen, und an dem leeren Himmel hatten die Sterne geschienen. Doch diese Öffnungen waren verschwunden, als später der Wind ein wenig drehte und von brennenden Öltanks außerhalb der Stadt undurchdringliche, wirbelnde Wolken fettigen Rauchs heranbrachte. Wo dieser Rauch genau herkam, wußte niemand. Vielleicht vom Flughafen Kalang, vielleicht vom Kraftwerk, vielleicht von dem Marinestützpunkt im Norden der Insel, vielleicht von den Ölinseln Pulo Sambo oder Pulo Sebarok, vier oder fünf Meilen vor der Küste. Das wußte niemand. Wissen konnte man nur, was man sah, und die Mitternacht war so schwarz, daß fast nichts zu sehen war. Auch von den brennenden Gebäuden kam jetzt kaum noch irgendein Lichtschein, denn sie waren niedergebrannt, völlig zerstört, und die letzte Glut, die letzten matten Flämmchen waren flackernd am Erlöschen – wie das Leben der Stadt Singapur.
Eine sterbende Stadt, über der schon das Schweigen des Todes zu lagern schien. Dann und wann rauschte eine Granate bedrohlich durch die Luft, klatschte harmlos ins Wasser oder schlug in ein Haus ein und detonierte krachend und blitzend. Doch das Krachen und Blitzen, von dem alles verhüllenden Rauch augenblicklich verschluckt und erstickt, war von einer seltsamen Flüchtigkeit, schien als natürlicher Bestandteil zum Wesen dieser Nacht zu erhören, zu ihrer Fremdartigkeit und tiefen Unwirklichkeit, und die darauffolgende Stille war nur noch tiefer und intensiver als zuvor. Hin und wieder kam vom Vorgelände von Fort Canning und Pearls Hill, jenseits der nordwestlichen Grenze der Stadt, das unregelmäßige Geknatter von Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, doch auch das war fern und unwirklich, ein weit entferntes Echo in einem Traum. Alles in dieser Nacht hatte den gleichen traumhaften Charakter, war schattenhaft und wesenlos. Auch die wenigen Menschen, die sich noch langsam durch die von Trümmern besäten, ausgestorbenen Straßen von Singapur bewegten, glichen den ziellosen Wanderern eines Traumes, wie sie unschlüssig, gleichgültig und unsicher durch die wirbelnden Rauchschwaden tappten, ohne zu sehen, wohin – kleine verirrte Gestalten, die verzweifelt ihren Weg durch den Nebel eines Alptraums suchten.
Langsam und unsicher bewegte sich die kleine Marschkolonne von rund zwei Dutzend Mann durch die rauchgeschwärzten Straßen zum Hafenviertel. Es war ein Zug sehr alter, sehr müder Männer. Sie sahen aus wie alte Männer, sie gingen mit den stockenden Schritten, den hängenden Köpfen und Schultern alter Männer, doch sie waren nicht alt, der älteste nicht älter als dreißig; aber sie waren müde, entsetzlich müde, müde bis zu jenem Grad der Erschöpfung, da alles völlig gleichgültig wird und es leichter ist, weiterzuhumpeln als stehenzubleiben. Sie waren müde und krank, verwundet und entkräftet, und sie bewegten sich jetzt nur noch automatisch, ohne Überlegung, fast bewußtlos. Hochgradige physische und psychische Erschöpfung ist jedoch gleichzeitig eine Wohltat, ein schmerzstillendes, betäubendes Mittel; und die matten, glanzlosen Augen, deren leerer Blick nach unten gerichtet war auf die Erde zwischen den schurrenden Füßen, ließen das eine mit absoluter Deutlichkeit erkennen: was auch immer diese Männer noch auszuhalten haben mochten, so dachten sie jedenfalls nicht mehr an das, was sie in der letzten Zeit mitgemacht hatten.
In diesem Augenblick zumindest hatten sie keine Erinnerung mehr an den bösen Wachtraum der letzten zwei Monate, an die Entbehrungen, den Hunger, den Durst, die Wunden, an die körperlichen Leiden und den seelischen Druck der Wochen, in denen die Japaner sie vor sich hergetrieben hatten, quer über die endlose Länge der malaiischen Halbinsel und über den inzwischen zerstörten Damm von Jahore in die illusorische Sicherheit der Insel Singapur. Sie dachten nicht mehr an die verschwundenen
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