Bittere Mandeln
haben.«
»Ich … wir … sie …« Lila stotterte ein bißchen herum und sagte dann mit matter Stimme: »Sakura hat Bescheid gewußt. Sie hat mich im Kurs schlecht behandelt und Masanobu gegenüber angedeutet, daß sie alles weiß. Aber er hat sie wieder befördert, zur Großmeisterin, und sie bekam auch mehr Gehalt. Wissen Sie, Geld löst alle Probleme. Masanobu würde nie, aber auch wirklich nie, einer Frau etwas zuleide tun.«
»Ihnen hat er zumindest Kratzer zugefügt«, sagte ich. »Ich habe Ihren Rücken neulich in der Küche gesehen.«
Lila schwieg ein paar Sekunden, dann erklärte sie: »Darum habe ich ihn gebeten.«
»Sie meinen …«
»Sie sind nicht verheiratet«, sagte Lila einfach nur. »Für alleinstehende Frauen ist die Liebe immer eitel Freude, aber wenn man ein bißchen Lebenserfahrung hat, schätzt man manchmal auch ihre rauheren Seiten.«
Vermutlich war ich rot geworden, denn Lila schnaubte verächtlich. »Sie werden ja verlegen. Ein Zeichen, daß Sie noch ziemlich jung sind. Nun, ich darf Ihnen versichern, daß die Affäre zu Ende ist. Er interessiert sich nicht mehr für mich.«
»Er hat Schluß gemacht?« Ich mußte zugeben, daß mich das für ihren Mann und ihre Kinder freute.
»Masanobu hat mich verlassen und mir erklärt, daß er die Beziehung jetzt, da Sie Bescheid wissen, nicht mehr fortführen kann. Ich habe ihn angefleht, sich zu beruhigen und sich alles noch einmal zu überlegen, doch er wollte die Sache unbedingt beenden. Eigentlich hatte ich erwartet, daß er hierher kommen würde, um die letzten Vorbereitungen zu überwachen. Ich glaube, er ist nur deshalb nicht hier, weil er mir aus dem Weg gehen möchte. Aber die Party ist schrecklich ohne ihn! Ich kann mir nicht vorstellen, wie seine Kinder das Fest weiter gestalten wollen. Sie haben heute abend kläglich versagt.«
»Hat der Schulleiter Ihnen gegenüber denn etwas von diesem Fest erwähnt?« fragte ich.
Lila schien meine Frage zu überraschen. »Nein. Ich habe meine Einladung gestern erhalten, mit ihm aber nicht darüber gesprochen, weil ich andere Dinge im Kopf hatte. Wir hatten sowieso nie viel Zeit miteinander.«
»Wenn Sie das tröstet: Er wußte nichts von dieser Party«, sagte ich. »Natsumi und Takeo hatten auch keine Ahnung. Die Zusagen sollten an einen Antwortdienst außerhalb der Schule gehen, damit die Angestellten nichts davon mitbekamen und der Familie nicht Bescheid sagen konnten. Darum ist auch Mrs. Koda nicht hier.«
»Und wer hat die Einladungen verschickt?« Lila sah mich fragend an.
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls muß es jemand gewesen sein, der der Familie nicht wohlgesonnen ist.«
»Vielleicht aber auch jemand, der die Familie liebt«, sagte Lila mit sanfter Stimme. »Ohne die Einladungen für heute abend hätte es dieses Jahr kein Kirschblütenfest gegeben. Derjenige, der die Einladungen verschickt hat, wollte möglicherweise die Tradition aufrecht erhalten. Schließlich finden diese Kirschblütenfeste seit einhundertfünfundvierzig Jahren statt, und zwar ohne eine einzige Unterbrechung. Und für die Kayamas bedeutet Tradition alles.«
Ich dachte noch eine ganze Weile über Lilas Theorie nach, während sie die Treppe zu Nadine hinuntereilte, um zusammen mit ihrer Freundin für ein Gruppenfoto zu posieren.
Tradition. Wieder betrachtete ich Reiko Kayamas Schriftrolle, die in der Nische in Takeos Zimmer hing. Ich wußte, daß ich hinuntergehen, Takeo aufspüren und ihn nach seinem Verhältnis zur Tradition befragen mußte. Vielleicht war ihm ja eine Lehrerin oder eine Schülerin aufgefallen, die auf merkwürdige Weise von der Vergangenheit fasziniert war.
Doch bevor ich das Zimmer verließ, verschaffte ich mir ein eigenes Bild von Reiko Kayamas künstlerischem Werk. Ich holte Tante Nories Kamera aus dem kleinen Seidenbeutel, der an meinem Handgelenk baumelte, und richtete sie auf die Schriftrolle. Dann holte ich die Schrift mit dem Zoom näher heran.
Wieder fiel mir auf, wie sehr die Schriftrolle sich von den Haiku-Briefen unterschied, die ich erhalten hatte, und zwar nicht nur in der Handschrift.
Der Unterschied war folgender: Im Text von Reikos Originalschriftrolle, die ich gerade betrachtete, waren vier kanji- Schriftzeichen, und zwar für »Frühling«, »Wind«, »Schönheit« und »Frau«. Das war mir nicht weiter aufgefallen, weil ich diese kanji inzwischen kannte. Die Briefe hingegen, die man mir unter der Tür durchgeschoben hatte, waren vollständig in hiragana verfaßt, der
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