Bittere Mandeln
phonetischen Schrift.
Die Person, die mir die Briefe geschickt hatte, war also der Meinung, daß ich nicht sonderlich gut Japanisch lesen konnte, wollte aber sichergehen, daß ich die Botschaft trotzdem verstand.
Wer wußte, daß ich im Lesen von kanji nicht so gut war? Takeo jedenfalls nicht. Ihm hatte ich im Restaurant vorgemacht, daß ich in der Lage sei, die Speisekarte zu verstehen.
Wer also wußte, daß ich letztlich kaum lesen konnte? fragte ich mich immer wieder, bis es mir endlich einfiel.
»Wo ist deine Mutter?« fragte ich Tom, nachdem ich zu ihm gehastet war. Er stand ein bißchen verkrampft und sichtlich genervt an dem sich allmählich leerenden Büffet.
»Ach, da bist du ja! Ich soll dir sagen, daß sie nach draußen gegangen ist, um etwas für Natsumi zu holen.«
»Hat Onkel Hiroshi sie begleitet?«
»Nein, der ist da drüben.« Tom deutete mit dem Kopf in Richtung Garten, wo Onkel Hiroshi sich angeregt mit einem kleingewachsenen Mann unterhielt, dessen Rücken mir irgendwie bekannt vorkam. »Er redet mit dem Geschäftsführer von Sendai. Als Mutter das sah, wollte sie ihn nicht stören.«
»O nein!« Ich kannte Masuhiro Sendai, einen der großen japanischen Industriebosse, durch meinen Exfreund Hugh. Die Firma Sendai hatte uns durch ihre Anrufe nicht nur bei zahllosen Abendessen, sondern auch im Schlaf gestört. Und nun hielt Sendai Hiroshi davon ab, seiner Frau beizustehen, wenn diese ihn brauchte.
»Es kann nicht schaden, wenn mein Vater sich mit Sendai-san unterhält«, sagte Tom. »Es könnte womöglich nützlich für ihn sein.«
»Aber deine Mutter hätte nicht allein in die Dunkelheit hinausgehen dürfen. Vergiß die Sache mit dem Essen, Tom, wir müssen sie finden.«
»Ihr passiert bestimmt nichts. Iwata-san ist bei ihr.« Als ich ihn verständnislos ansah, fügte er hinzu: »Du kennst sie nur unter ihrem Vornamen. Ich meine ihre Freundin Eriko.«
29
Mehrere Laternen in den Bäumen waren inzwischen ausgegangen, so daß es draußen jetzt noch dunkler wirkte. Wind war aufgekommen, und man roch förmlich den herannahenden Regen. Ich schlüpfte aus den lästigen Sandalen und lief strumpfsockig in Richtung kura. Der kleine Beutel, den ich dabeihatte, behinderte mich nur, also legte ich ihn auf einen Felsen, holte die Kamera heraus und hängte sie mir um den Hals.
Zuvor war mir die kura viel kleiner erschienen. Sie war ungefähr so groß wie die meisten Häuser in Yanaka und hatte, soweit ich das anhand des Lichts, das durch ein Fenster hoch über der Tür herausdrang, beurteilen konnte, zwei Stockwerke. Genau wie das winzige Fenster in der Toilette der Kayamas verriet auch dieses hier mir etwas sehr Wichtiges. In dem Lagerhaus war zuvor kein Licht gewesen, also hatte sich jemand darin aufgehalten oder war immer noch dort.
Ich war froh, keine Schuhe anzuhaben, als ich mich der kura näherte. Der Eingang ähnelte einem Scheunentor mit einem Riegel in der Mitte, der jetzt geöffnet war. Ich zog vorsichtig am linken Flügel des Tores, weil ich befürchtete, daß er knarren würde. Doch er war gut geölt und ließ sich völlig geräuschlos aufmachen.
Von der Tür aus ließ ich den Blick über das Innere des Lagerhauses schweifen. Jetzt begriff ich, warum es im Erdgeschoß keine Fenster gab: Alle Wände waren bis hinauf in den ersten Stock mit tiefen Regalen voller flacher Lackkästen bedeckt. Diesen ersten Stock konnte man über eine tansu- Kommode erreichen, die die Form einer Treppe hatte. Ich hatte solche Treppen- tansu schon als Dekorationsstücke in Häusern gesehen, aber noch nie in dieser Funktion. Sehr vertrauenswürdig erschien mir diese Kommode nicht, denn die schmalen, steilen Stufen waren aus altem, strohtrockenem Holz. Als ich den Raum dann schließlich betrat, entdeckte ich, daß eine Lagerkiste in der Nähe der Wand am anderen Ende geöffnet worden war. Aus ihr ergoß sich eine Flut roter Seide. Vielleicht war das einer von Reikos Kimonos. Aber wo steckte meine Tante?
Da hörte ich von draußen das Geräusch eines einschlagenden Blitzes, und plötzlich gingen die Lichter aus. Es war völlig still. Der ganz eigene Geruch der kura, eine Mischung aus altem Holz, Stoffen, Heu und Erde, wurde überlagert vom Geruch meiner Angst. Regen trommelte so rhythmisch aufs Dach wie ein taiko- Spieler – der Sturm war losgebrochen.
Ich tastete mich vorsichtig rückwärts in Richtung des Eingangs zurück. Da ich im Erdgeschoß war und nicht weit vom Tor entfernt, befand ich mich im
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