Bitteres Geheimnis
heiser. »Hier. Jetzt gleich.«
»Nein, Mike -«
»Es ist schön. Wirklich. Du findest es bestimmt schön. Und ich tu dir nicht weh. Wir tun es so, wie du möchtest.«
»Nein!«
»Du brauchst dich nicht mal auszuziehen.«
Als sie plötzlich die Hände vor ihr Gesicht schlug und zu weinen anfing, seufzte Mike ungeduldig und zog seinen Arm von ihren Schultern. Sie weinte ein paar Minuten lang, dann wurde sie wieder ruhiger.
»Hey, Mary, sei nicht böse«, sagte Mike. »Es tut mir leid.«
Sie schluckte und wischte sich mit den Fingern die Augen. »Ich will es ja auch, aber wir dürfen nicht. Erst wenn wir verheiratet sind.«
Er sah sie einen Moment lang stumm an, dann sagte er bedrückt: »Vielleicht sehen wir uns nie wieder. Ich liebe dich, Mary. Liebst du mich auch?«
Sie sagte »ja« und begann wieder zu weinen.
Da hatte Mike den Wagen angelassen, und sie waren in eisigem Schweigen zu ihrem Haus gefahren.
»Mr. Holland! Bitte!« Krachend knallte der Zeigestab auf das Lehrerpult.
Mike sah erschrocken auf.
»Ich kann ja verstehen, Mr. Holland, daß Sie lieber junge Damen betrachten als mich, aber ich erwarte, daß Sie wenigstens Ihre Ohren in meiner Richtung spitzen. Würden Sie also jetzt bitte die Frage beantworten.«
Die anderen lachten erheitert, und Mike sagte verlegen: »Entschuldigen Sie, ich habe die Frage nicht gehört.«
Adam Slocum seufzte wieder. Auch Mike Holland konnte er nicht böse sein. Der gutaussehende blonde Junge mit dem offenen Gesicht war nicht nur Klassensprecher und Mannschaftskapitän des Football-Teams, er war vor allem ein glänzender Schüler.
»Können Sie uns den Unterschied zwischen Venen und Arterien sagen?«
Mit einem raschen, ihm selbst völlig unbewussten Blick auf Mary trug Mike eine Antwort wie aus dem Lehrbuch vor. Während er sprach, sah Adam Slocum nachdenklich zu der kleinen McFarland hinüber, die augenblicklich mit einem entwaffnenden Lächeln antwortete.
Der Biologielehrer kannte diesen Typ von Mädchen: die geborene Führernatur, immer im Mittelpunkt, von allen umworben. Jeder in der Klasse wollte ihre Aufmerksamkeit, jeder richtete sich unwillkürlich nach dem, was sie für richtig hielt. Fast in jeder Klasse gab es solche Anführer; manchmal waren sie eine Plage, verleiteten die anderen zu nichts als Dummheiten und Streichen; manchmal waren sie Vorbilder, denen die ganze Klasse in allem nacheiferte, ob nun im guten oder im schlechten Sinn. Der Herdentrieb war bei den Teenagers stark ausgeprägt, und ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht, fast immer kürten sie stillschweigend einen Anführer, der ihnen in den Wirrnissen und Schwierigkeiten der Adoleszenz Orientierung geben sollte. Oft wählten sie die Hübscheste oder den Bestaussehenden, wobei sie hervorragendes Aussehen mit hervorragendem Intellekt gleich setzten. Mary Ann McFarland hatte beides. Es hätte Slocum interessiert, wie weit sich Mary ihres Einflusses auf die anderen bewußt war.
»Wer kann mir die größte Arterie und die größte Vene im menschlichen Körper nennen?«
Mehrere Arme schossen in die Höhe. Im Grund ist es eine Schande, dachte Adam Slocum, man macht sie mit sämtlichen Systemen und Funktionen vertraut, nur das eine, das so wichtig ist wie alle anderen, das unterschlägt man; es ist verboten, tabuisiert, man könnte sogar bestraft werden, wenn man es im Unterricht zur Sprache bringt. Man konnte über Gene und Chromosomen sprechen, über weiße und schwarze Mäuse, über Fortpflanzung und Paarung, aber wie diese Gene praktisch weitergegeben wurden, darüber durfte man kein Wort verlauten lassen. Er rollte die Karte mit der Darstellung der Blutgefäße auf, räusperte sich und sagte: »Arterien vom Herzen weg, Venen zum Herzen ...«
Während alle eifrig schrieben, kehrte Mike mit seinen Gedanken wieder zum Debakel des vergangenen Abends zurück. Er schaute zu Mary hinüber, die mit konzentriertem Gesicht Slocums Vortrag folgte, und wußte, daß sie die Sache schon vergessen hatte.
In der letzten Stunde hatten die Mädchen Sport, und obwohl sie heute nur einen Vortrag über weibliche Hygiene zu hören bekommen würden, mußten sie Sportbekleidung anziehen. In der Hitze des Nachmittags saßen zweihundert Mädchen im Schneidersitz auf dem Boden des Turnsaals und schauten sich gelangweilt einen Trickfilm über die Menstruation an, den sie seit der fünften Klasse schon mindestens zehnmal gesehen hatten.
Später, im Umkleideraum, wurden die Mädchen wieder lebendig.
Weitere Kostenlose Bücher