Bitterzart
Delacroix. »Dass du deinen Bruder gesehen und irgendwie an einen sicheren Ort gebracht hast, wo er dir die Waffe gab.«
Ich holte tief Luft. Niemals würde ich verraten, wo Leo war.
»Ehrlich, Anya, es ist mir völlig egal, was mit deinem Bruder ist. Er hat auf einen Mafioso geschossen, der nicht besonders beliebt war, nicht mal bei seinen eigenen Leuten. Wenn du also Leo junior außer Landes geschafft hast, ohne dass er dabei getötet wurde – freut mich für dich! Du kümmerst dich um deine Leute, das kann ich verstehen. Dann wirst du auch verstehen, weshalb ich das ebenfalls tun muss. Das Einzige, was mich in diesem Zusammenhang angeht, ist die Tatsache, dass wegen dir auf meinen Sohn geschossen wurde.«
Ich senkte den Kopf. »Wenn ich das doch nur ändern könnte! Ich habe ihn in Gefahr gebracht, das werde ich mir niemals verzeihen.«
»Ach, Anya, sei nicht so melodramatisch. Manchmal vergesse ich, dass du erst sechzehn bist, aber dann sagst du so was Dummes wie gerade. Win wird wieder gesund werden, das Erlebnis wird ihn abhärten und stärken. Für Win ist das Leben zu einfach gewesen. Im Moment stören mich die Schüsse auf Win nur, weil sein Name dadurch in die Nachrichten kommt und meinen Namen mit deinem in Verbindung bringt. Verstehst du mein Problem?«
Ich nickte.
»Wenn ich dich für den Besitz einer Feuerwaffe nicht irgendwie bestrafe, wird es aussehen, als würde ich die Freundin meines Sohnes verschonen. Schlimmer noch, dieses Mädchen hat gewisse Verbindungen zur Bratwa . Meine Gegner werden mir vorwerfen, dem organisierten Verbrechen gegenüber zu lax zu sein. Das kann ich mir nicht leisten. In der ersten Juniwoche werde ich meine Kandidatur für den Posten des Leitenden Staatsanwalts bekanntgeben.«
»Aha.«
»So, nun kennst du mein Dilemma. Möchtest du wissen, wie deins aussieht?«, fragte Charles Delacroix.
»Bitte sehr!«
»Genau genommen hast du mehrere Probleme, armes Mädchen. Das erste ist dein Bruder. Mir ist egal, wo er ist, aber das sehen einige in deiner Familie anders, und wenn ich die Untersuchungen des Projektils veröffentliche, weiß jeder, was du getan hast. Eure Familie wird Leo aufspüren und umbringen. Dich wahrscheinlich auch. Das zweite Problem ist deine heißgeliebte kleine Schwester, die momentan keinen gesetzlichen Vormund hat. Ich weiß, dass du wie ein Vormund fungierst, aber die Leute sind nicht dumm, und du willst bestimmt nicht, dass sich das Jugendamt bei euch einmischt. Das dritte Problem ist die Anzeige wegen Waffenbesitzes. Darüber haben wir schon gesprochen. Und das vierte ist mein Sohn. Er liebt dich. Du liebst ihn. Aber sein Vater! Warum versucht der bloß, dich von ihm fernzuhalten?«
Stimmt, das fasste es ganz gut zusammen. »Sieht ziemlich übel aus.«
»Ich kann dir helfen«, sagte er. »Ich habe oft an das erste Mal gedacht, als wir uns auf der Fähre von Liberty Island kennenlernten. An einen Spruch, den dein Vater dir mitgegeben hat, wie du mir erklärtest. Kannst du dich noch erinnern?«
»Daddy hat so manches gesagt«, entgegnete ich.
»Du sagtest, dein Vater hätte dir immer erklärt, man sollte sich auf nichts einlassen, solange man nicht genau wüsste, was man davon hat.«
»Ja, das war von ihm.«
»Nun, Anya, ich habe dich schon einmal gebeten, keine Beziehung zu meinem Sohn aufzunehmen, aber damals hatte ich kein Gegenangebot. Heute schon. Es steht aber nur für sehr kurze Zeit zur Verfügung. Du musst dich noch heute Nacht entscheiden.«
Er legte es mir folgendermaßen dar: Er würde sicherstellen, dass die Informationen über die untersuchten Projektile niemals an die Öffentlichkeit gelangten, und damit Leos Sicherheit garantieren. Dafür würde ich den Sommer über wegen Waffenbesitzes in die Jugendeinrichtung Liberty Island geschickt, so dass Mr. Delacroix seinen Wählern zeigen konnte, was für ein harter Hund er war. Während ich in Liberty wäre, würde Natty am Hochbegabten-Lager teilnehmen. (Ich fragte ihn, woher er das wisse. »Ich weiß alles, Anya, das ist mein Job.«) Diese Regelung würde auch gewährleisten, dass das Jugendamt keine Notwendigkeit sähe, sich um uns zu kümmern, da Natty praktisch durchgängig einen Vormund hatte. Den Sommer über würde Charles Delacroix dafür sorgen, dass die Papiere genehmigt wurden, die mich für beschränkt geschäftsfähig erklärten, damit ich Nattys offizieller Vormund werden konnte. Im Gegenzug würde ich mit Win Schluss machen. Ich dürfte ihn noch ein letztes Mal
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