Blackout
September.
Das letzte konkrete Ereignis vor der Operation, an das ich mich erinnern konnte. Dieses Geschirr hatte das Gewicht eines archäologischen Fundes. Ich spülte es und stellte es weg, dann schleppte ich meine Taschen und meinen Tumor die Treppe hoch und den Flur auf der Empore entlang, den mein Immobilienmakler als Laufsteg bezeichnet hatte.
Tu’s mit GESANG , dann WÄHRT
’
S nicht LANG , die Zeit geht SCHNELLER
RUM .
Die schönste Aussicht im ganzen Haus hatte mein Büro. Die schalldichten Flügeltüren, die zum Schlafzimmer führten, waren jetzt geschlossen. Mein umgekippter Stuhl bot einen unheimlichen Anblick, als ich die Treppen hochkam, er wirkte wie eine Leiche. Ich starrte einen Moment auf ihn herunter, bevor ich ihn wieder aufrecht hinstellte. Hatte ihn ein Detective bei der Hausdurchsuchung umgestoßen? Ein Einbrecher? Oder meine Wenigkeit, als ich mich gerade in meinem Gehirntumor-Blackout verlor?
In meinem Büropapierkorb lagen ein gefaxtes Angebot von einem italienischen Verlag, Abrisse von Eintrittskarten zu den Spielen der Dodgers und ein paar Werbesendungen. Überreste eines ganz normalen Tages, der seinen Lauf nahm, ohne dass Einzelheiten davon im Gedächtnis bleiben würden. Ich schaltete meinen Palm ein, klickte rückwärts alle verpassten Verabredungen und Besprechungen durch, bis ich zum dreiundzwanzigsten September kam. Der Bildschirm war leer, wie zu erwarten. Als ich den Palm wieder in sein Etui steckte, traf mich die Erkenntnis, dass ich mir bizarrerweise selbst hinterherschnüffelte. Ich war ein Einbrecher in meinem eigenen Haus.
Ich drückte auf den Freisprechknopf meines Telefons, um den Pizza-Service anzurufen, für den Fall, dass mein Appetit jemals zurückkehren sollte, aber nach den ersten drei Ziffern merkte ich, dass der Apparat keinen Ton von sich gab. Nachdem ich die Einkaufstüten durchwühlt hatte, förderte ich eine Handvoll Briefe zutage, in denen man mir mitteilte, dass mein Anschluss gesperrt werden müsse. Alle anderen Anbieter hatten glücklicherweise eine Einzugsermächtigung für mein Girokonto, wie zum Beispiel der Provider meines Handys, das auf dem Aktenschrank stand und brav seinen Akku auflud. Ich stöpselte das Headset in mein Motorola und wählte.
Während die Warteschleifenmusik der Telefongesellschaft mit dem Schneewittchen-Song von nebenan wetteiferte, sah ich meine E-Mails durch. Freunde und Leser sprachen mir ihre Unterstützung aus, andere, die von meiner Schuld überzeugt waren, hatten mir ein paar hasserfüllte Zeilen zukommen lassen, dazu kam eine Unmenge von Werbemails für Viagra und Penisvergrößerungen. Ich beschloss, Letztere als Spam zu betrachten und nicht als zielgruppenorientiertes Marketing. Als ich zu den Tagen vor und nach Genevièves Tod herunterscrollte, war ich zugleich enttäuscht und erleichtert, nichts Ungewöhnliches zu finden.
Ich loggte mich aus und starrte den leeren Bildschirm an. Bei dem Gedanken, demnächst irgendetwas zu schreiben – oder überhaupt jemals wieder etwas zu schreiben –, verließ mich mein ganzer Mut. Es ging doch nichts über ein kleines, altmodisches Trauma, um mir die Egozentrik meines Berufs vor Augen zu führen. Und auch seinen mangelnden Praxisbezug. Ich hätte mir in diesem Moment eine Arztpraxis gewünscht oder von mir aus auch ein Waisenkind, um das ich mich hätte kümmern müssen. Irgendetwas, nur um nicht vor einem Bildschirm sitzen und so tun zu müssen, als wäre das, was ich mir hier ausdachte, für Hunderttausende von Menschen interessant. Menschen, die zum Großteil Berufe ausübten, die wirklich nützlich waren.
Schließlich bekam ich Serg in die Leitung, der mich fragte, womit mir seine Telefongesellschaft heute exzellenten Service bieten könnte. Ich erklärte, dass ich versäumt hatte, meine Telefonrechnung zu zahlen, das jetzt aber nachholen würde und meinen Anschluss wieder freigeschaltet haben wollte. Nachdem er es mir mit ausstehenden Mahngebühren und Freischaltungsgebühren so richtig besorgt hatte – die zu zahlen ich mich natürlich reuig bereiterklärte –, seufzte er enttäuscht und nahm meine Kreditkartennummer auf.
»Kann ich meine Nummer denn behalten?«, fragte ich, denn im Moment war es mir extrem wichtig, nichts Vertrautes aufgeben zu müssen.
»Ihr Anschluss ist gesperrt worden, nicht abgemeldet«, sagte Serg. »Sie behalten also Ihre Nummer. Wir schicken Ihnen jemand vorbei, der den Anschluss wieder freischaltet.«
»Wann?«
»Bis nächsten
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