Der Zauberspiegel
1. Kapitel – Der Spiegel
D as Brummen des Sportmotors lullte Juliane in schläfrige Reglosigkeit, bis die Stimme ihrer Mutter sie aus ihren Träumereien riss.
»Musst du unbedingt solche Fetzen tragen?«
Juliane besah sich das Guccikostüm ihrer Mutter. »Kosten den Bruchteil deiner Lumpen.«
»Sogar deine kleine Schwester beweist mehr Geschmack als du mit deinen fünfzehn Jahren.«
Juliane versteifte sich. Immer hielt sie ihr die Schwestern als Paradebeispiel vor. Das letzte Mal war es eine verpatzte Mathearbeit, die ihr den Kommentar über den Fleiß der ältesten Schwester Constanze entlockte. Sie fand stets Gründe, an ihr herumzunörgeln.
»Michaela weiß noch nicht, dass sie dein Klon werden soll.« Demonstrativ zog Juliane einen schwarzen Lippenstift heraus und malte ihre Lippen nach. Sie hatte Mühe, die Kontur zu ziehen und biss sich auf die Innenseite ihrer Wange.
Ich wollte nie Kinder haben. Vor allem Juliane ist eine Enttäuschung.
Juliane zuckte zusammen, es traf sie jedes Mal wie ein Fausthieb, wenn fremde Gedanken in ihren Kopf eindrangen.
Wie meine Mutter, sie ist wie meine gottverdammte Mutter!
Juliane fühlte sich wie Müll. Nutzlos und abgeschrieben. Ihre Unterlippe zitterte und fast wäre sie in Tränen ausgebrochen. Sie kämpfte mit ihren Gefühlen und rang gegen die ihrer Mutter. Warum konnte diese Frau, die sich ihre Mutter nannte, ihre Emotionen nicht unter Kontrolle halten? Warum empfing Juliane zu den unterschiedlichsten Zeiten die Gedanken anderer Leute? Und selten gute Gedanken. Ihr schien, als suhlte sich die Menschheit in depressiven Stimmungen.
Mutter parkte den Sportwagen hinter einem Reisebus.
Juliane warf ihr Haar zurück und rang ihr aufgelodertes Temperament nieder. »Holst du mich wieder ab?«
Mutter blickte auf ihre Uhr. Nicht einmal den Motor hatte sie abgestellt. »Du kommst Freitagabend zurück?«
»Mittags.«
Sie griff nach der Geldbörse im Handschuhfach und zog ein paar Scheine heraus. »Hier, ruf dir ein Taxi. Ich habe am Freitag eine wichtige Besprechung.«
Juliane zerknüllte die Geldscheine und stopfte sie samt Lippenstift in die Hosentasche ihrer abgetragenen Jeans. »Danke, damit kann ich die ganze Klasse mit Joints versorgen.«
Juliane griff nach ihrem Rucksack, stieg aus dem Wagen und warf die Tür schwungvoll zu. Sie glaubte nicht, dass Mutter ihre Ansage mitbekommen hatte. Bestimmt war sie viel zu sehr damit beschäftigt, sich mit ihrem neusten Projekt oder irgendeinem interessanten Konzept auseinanderzusetzen. Ein strahlender Stern am Marketinghimmel zu sein, verlangte vollen Einsatz, die beste Ellenbogentechnik und komplettes Desinteresse an den Töchtern.
Ohne zu winken, fuhr Mutter davon. Juliane wandte sich ab und überblickte die wartenden Mädchen. Die grellen Farben der Bekleidungen stachen in ihren Augen.
Sie verzichtete darauf, die gestylten Visagen und toupierten, geglätteten Mähnen der Zicken-Girlies näher zu betrachten und suchte in der Menge nach Chantal.
Sie entdeckte ihre Freundin in der Gruppe und gesellte sich zu ihr. Eigentlich war ihr Name Chantal-Estelle, doch seit sie einem der Zicken-Girlies eine Ohrfeige verpasst hatte, als diese sie hämisch bei ihrem vollen Namen rief, wagte niemand mehr, sie so zu nennen.
»Super Klamotten«, bemerkte Chantal anerkennend, während sie sich gegen den Kotflügel des Busses sinken ließ. »Die Jacke ist echt cool.«
Juliane sah kurz an sich hinunter. Ihre Mutter hasste schwarz, also hatte sie an diesem Morgen ihre Bikerlederjacke angezogen und hochgekrempelte Jeans zu Stiefeletten. Ihr gefiel die Vorstellung, wie ein Gothic auszusehen. Ihr abweisendes Verhalten tat ein Übriges, um von ihren Klassenkameradinnen gemieden zu werden. Das ersparte ihr, sich deren Gegacker anhören zu müssen. Ihre einzige Freundin war Chantal, die die neunte Klasse wiederholen musste. Sie mochten beide eine bestimmte Gothicband und schwarze Kleidung. Zwei Außenseiterinnen, die für sich blieben.
»War das deine Mutter?«
Juliane nickte. Sie hatten sich noch nie gegenseitig besucht. Welche Gründe Chantal hatte, wusste Juliane nicht. Sie selbst wollte nicht, dass Chantal sich von ihrem reichen Elternhaus beeindrucken ließ.
»Deine Mutter fährt aber einen coolen Schlitten. Muss teuer gewesen sein«, ließ Chantal prompt verlauten.
»Ist nicht wichtig.«
Chantal schnaubte verächtlich. »Das sagst du nur, weil du Geld hast. Komm mich mal besuchen, dann siehst du, wie ich hausen
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