Blamage
Höflichkeitsregeln vermeidet.
Scham und Peinlichkeit â wie lassen sich beide Begriffe voneinander abgrenzen? Einfach ausgedrückt: Die Peinlichkeit, das Peinlichkeitsempfinden, spielt sich an der Oberfläche ab. Die Scham, das Sich-Schämen liegt darunter. Peinlich ist es, wenn man die sozialen Konventionen vernachlässigt hat, beschämend ist es dagegen, wenn man sittlich-moralische Normen verletzt hat, Normen, mit denen sich auch das eigene Ich identifiziert. Peinlich wird es meistens erst, wenn wir glauben, unter der strengen Beobachtung, der Fremdbewertung anderer zu stehen, schämen können wir uns hingegen auch alleine, wenn andere gar nichts von unserem Versagen wissen â die Scham ist ausschlieÃlich eine Frage der Selbstbewertung. So erging es beispielsweise dem (inzwischen verstorbenen) amerikanischen Schriftsteller David Foster Wallace, als er seine Mitreisenden auf einer Kreuzfahrt betrachtete, und glaubte, unter ihnen viele Juden ausgemacht zu haben: »Ich schäme mich für den Gedanken, jüdische Herkunft am Aussehen erkennen zu können.« 12 Foster Wallace hatte niemanden beleidigt, hatte kein Wort gesagt, allein für seinen Blick auf die Passagiere, für seine Gedanken schämte er sich. Am schlimmsten wäre es für ihn gewesen, wenn andere seine Gedanken hätten lesen können. Dann würden Peinlichkeit und Scham gemeinsam empfunden, Scham für das Versagen, Peinlichkeit für die Entdeckung desselben. Man kann sich also schämen, ohne etwas Peinliches getan zu haben. Ebenfalls kann man sich für etwas schämen, was man gar nicht getan hat. Der Autor selbst hatte einmal einen seltsamen Anfall von Fremdschämen beim Fernsehen. Es lief eine Comedy-Sendung, die Komiker waren vollkommen unlustig, erzählten einen grottenschlechten Witz nach dem anderen, das Publikum johlte und der Autor: schämte sich! Ja, er schämte sich. Für etwas, was er gar nicht getan hatte! Schämen sollten sich der Comedian, der Produzent, der Programmchef. Aber keine Spur davon. Vielleicht ist es uns allein deswegen peinlich, weil wir bei diesem Verbrechen gegen den guten Geschmack zugesehen haben, sozusagen Komplizen und durch die brav gezahlten Fernseh- und Rundfunkgebühren auch noch mitverantwortlich sind. In dieser Situation bestand letztlich eine imaginäre Gemeinschaft von Fernsehzuschauern und Fernsehprogrammgestaltern. Der peinlich berührte Zuschauer schämte sich stellvertretend für die ganze Gemeinschaft.
Das Kleinkind kennt keine Blamage â Lernen, was peinlich ist
Die Episode vom Fremdschämen zeigt: Das Gefühl für Peinlichkeit hat stets mit Gesellschaft zu tun, es ist überwiegend eine soziale Errungenschaft (wobei es durchaus auch eine gewisse genetische Disposition für Schüchternheit und Befangenheit gibt). Kleine Kinder kennen zunächst keine Peinlichkeitsgefühle, weder beisich selbst, noch können sie sich diese Gefühle bei anderen vorstellen. Sie sind in dieser Hinsicht sehr ehrlich, nehmen kein Blatt vor den Mund und können die Erwachsenen auf ihre Weise blamieren. Viele Eltern kennen beispielsweise Situationen, in denen ihre Kleinkinder flüchtigen Bekannten oder Nachbarn mit gröÃter Selbstverständlichkeit Familieninterna mitteilen. Säuglinge beziehen andere anfänglich überhaupt nicht in ihre Handlungen mit ein, alles, was sie tun, hängt zunächst einmal nur mit ihnen selbst zusammen. Erst nach einigen Monaten entwickelt der Säugling ein Gefühl dafür, dass er seine Umgebung mit bestimmten Handlungen beeinflussen kann. Im zweiten Lebensjahr entfaltet sich die sensomotorische Intelligenz und das Kind erkennt, dass es durch eine Koordination verschiedener Handlungen in seine Umwelt eingreifen kann. Bis das Kind jedoch seine vollkommen ich-bezogene Perspektive überwinden kann, sind noch einige Erfahrungen nötig. Es kann sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in andere Menschen hineinversetzen, dies wird (in etwa) erst im fünften Lebensjahr möglich sein. Dann kann ein erstes Gefühl für Verlegenheit und Peinlichkeit entwickelt werden. Diese Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, sich selbst mit den Augen der anderen sehen zu können, erprobt das Kind in Rollenspielen. Spielt es etwa Mutter und Kind mit anderen Kindern, mit einer Puppe oder mit sich selbst, übernimmt es sowohl die Rolle der Mutter als auch die des Kindes, also die
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