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Blanks Zufall: Roman

Blanks Zufall: Roman

Titel: Blanks Zufall: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Sidjani
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ihre von der Pizza fettigen Lippen zu küssen. Eine Geste, die sie mit einem kurzen Lachen quittiert.
    „Entschuldige“, sagt sie, „aber mein Mund war voll.“
    Und jetzt ist er endlich leer, denkt Marcus, und küsst sie wieder. Diesmal treffen ihre Zungen aufeinander, und der Geschmack von Pizza mischt sich mit ihrem Geschmack, dem Geschmack einer Frau, die er begehrt, neu und unverbraucht.
     

Epilog
    Die vier Musketiere
     
    MARCUS GEHT ZUM Verhör. Er nennt es Verhör, weil er nicht weiß, was er noch sagen soll, und sie dasselbe wieder und wieder hören wollen. Vielleicht hat er das aus Filmen und in einem Moment der inneren Unruhe, der ihn in der Bahn überfällt, hält er sich für einen Verdächtigen; sie werden ihn verdächtigen, denkt er, und er stellt sich vor, das Fellkostüm zu tragen, ein aus reiner Wut bestehendes Bündel, nichts Menschliches mehr, das loszieht um zu morden.
    Dann ist da Jennys Leichnam und er ist wieder ruhig.
    Marcus wird die Beamten fragen, ob sie etwas Neues wissen, wer es war und, noch wichtiger, warum er es tat; warum er diese „Wahnsinnstat“ begann, das ist der Begriff, kein Amoklauf mehr, kein Terroranschlag, die „Wahnsinnstat“ eines Wahnsinnigen, da sind sich alle Medien einig. Und sie berichten viel über das Ereignis, es verdrängt alle anderen Geschehen dieser Welt, für den Moment, und morgen und kommende Woche werden unzählige Talkshows Gäste zum Thema einladen und sie werden sich alle fragen, wie so etwas geschehen konnte, und noch mehr, wie es verhindert werden kann, beim nächsten Mal.
    Es heißt, die Polizei sei vermehrt auf der Straße unterwegs gewesen die letzten beiden Nächte, und sie haben eine Bande Jugendlicher in Gewahrsam genommen (ob aus Schutz vor dem Wahnsinnigen oder weil sie selbst etwas anstellten, ging aus der kleinen Meldung nicht hervor). Es passierte nichts auf den Straßen, alle blieben zu Hause. Die Panikmache hat funktioniert (aber war es wirklich eine Panikmache?; ist es nicht vielmehr so, dass Hamburgs Einwohner als Kollektiv zum ersten Mal und endlich mit etwas so grauenhaft Wahrhaftigen konfrontiert wurden, dass sie sich für eine gemeinsame Handlung entschieden?; nämlich nicht ihre Wohnung zu verlassen und sich ganz der staatlichen Unterstützung überlassen; ob Yuppie oder Hausfrau, Schanzenbewohner oder Blankeneser Bonze?).
    Es scheint, dass jener Abend des 28. Mai 2010 dazu auserwählt war, als Bühne für das Massaker, und Marcus war eine Figur, die jetzt seine Aussage wiederholen wird.
    Er steigt wieder Berliner Tor aus (er kommt von Anna), geht aber auf die andere Seite zum Ausgang, dort, wo die U-Bahnen fahren und das eckige Hochhaus des LKA aus dem Bürgersteig empor ragt wie ein graues Denkmal. Er solle sich am Foyer melden und seinen Namen sagen, sagte Herr Markus am Telefon, dann würde ein Beamter nach unten kommen und ihn mit ins Büro nehmen.
    Das Haus wirkt auch von innen wie jede Behörde, nur das Marcus hier durch einen Türrahmen gehen muss, der ihn auf eventuelle Metalle prüft. Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann mit Schnauzer und in einen Anzug ohne Krawatte gekleidet stellt sich als Herr Schneider vor und sagt, dass Marcus ihm folgen soll.
    Sie fahren im Fahrstuhl, welcher Stock merkt Marcus sich nicht. Sie gehen Flure entlang, an offenen Türen vorbei, die in Büros führen. Unterhaltungen werden unterbrochen, als sie die Stehenden oder Gehenden passieren, und sie mustern ihn als fremdartiges Objekt (der Überlebende, steht auf seiner Stirn). Jeder weiß, wozu er hier ist.
    Herr Schneider führt ihn in einen Raum, so klein wie ein Büro im Ortsamt, mit denselben Regalen, demselben Schreibtisch, alles gleich, nur die Fälle, die behandelt werden, sind anders. Und hier ist jeder bewaffnet, denkt Marcus, obwohl das manchmal auf dem Ortsamt viel sinnvoller wäre, wenn sie sich verteidigen könnten dort. Und er lenkt sich mit dem Gedanken ab, wie eine mittdreißig-jährige Beamtin ihren Magnum-Colt zückt, nachdem ein pickliger, zwanzig-jähriger Arbeitsloser ihr droht, sie zu erstechen, wenn sie ihm nicht seine Turnschuhe bezahlt.
    Das Verhör ist kurz, Marcus wiederholt nur, was er Herrn Markus schon sagte, und was dieser schon niederschrieb in jener Nacht. Aber nur ein Wiederholen ist es nicht, es ist ein detailliertes Nacherleben, was geschah, und er bemerkt seine Tränen erst, als Herr Schneider ihm ein Taschentuch reicht. Ich weine nicht, denkt Marcus, ich weine doch nicht vor einem

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