Blanks Zufall: Roman
ist...
„Was ist?“ flüstert Anna besorgt. Beide haben sich im Bett aufgerichtet und schauen sich an. Lichtlos beschienen vom hellen Mond durch das Fenster.
„Ich habe Maurice übersehen“, antwortet Marcus.
„Was?“
„Mein Gott, Anna, ich habe Maurice übersehen. In all der Panik, und als ich Frank da liegen sah, und Jenny, und all das Blut und das Chaos. Maurice. Verdammt, wie konnte ich ihn bloß vergessen? Ich hab' ihn doch gegen die Scheibe schlagen sehen. Der Irre hat ihn zuerst erwischt.“
Anna streichelt ihm über die Wange. Sie kennt die ganze Geschichte. Erst erzählte Marcus sie seiner Familie, dann seiner Freundin. Ex! Ex-Freundin, denkt er, ist doch so.
„Psst“, macht sie und Marcus bemerkt, wie laut er wurde. Ihr liebender Blick, das Sorgen um sein Wohl, so ehrlich, unerträglich.
Er springt aus dem Bett und rennt ins Bad. Anna folgt ihm nicht, sie fragt nicht, ruft ihm nicht nach. Marcus hat Maurice vergessen. In diesem Moment glaubt er, dass er sich das nie verzeihen wird. Als er gestern aus dem 'Raschinskis' kam, taumelte, lief, er weiß es nicht mehr, auf die Straße, schaute er hinauf zur Reeperbahn, zum KFC, zu den Leichen- und Krankenwagen, zu den Menschenansammlungen und zu dem letzten, freien Polizisten (Herr Markus), aber er schaute nicht zu Maurice, um sich vielleicht der Hoffnung zu ergeben, dass er es überlebte. Maurice war wie ein blinder Fleck, eine ausgeblendete Tatsache, wie es Fahmut für Efrat war, bevor sie ins zerbombte Café ging.
Im hellen Licht des Badezimmers betrachtet Marcus sich im Spiegel. Sein Gesicht wirkt blass und fahl, und seine Gestalt umgibt eine graue Aura, als wäre er ein Vergessener seiner selbst (wie der Kommilitone, den Anna und Marcus in einigen Vorlesungen betrachteten; über den sie sprachen, weil er wie eine unscharfe Stelle inmitten eines lebhaften, vor intensiven Farben sprühendes Foto wirkte; ausgeblichen von seiner Depression). Sein schwarzes, langes Haar hängt kraftlos herab, ein lebloses Tier, Schatten unter den Augen, und das Loch, in dem das Piercing war, bestätigt, dass etwas fehlt. Unbeschwertheit.
Anna klopft gegen die Tür.
„Alles okay?“ fragt sie und es klingt so anders durch das Holz, nicht nach Anna, wie eine Fremde, die Marcus mit zu sich nach Hause nahm.
Statt einer Antwort öffnet er die Tür und schaut in ihr blasses Puppengesicht, die großen, blauen Augen, die fragend besorgt schauen, ihre Liebe, die daraus spricht. Die schwarzen Haare liegen fein und eng an ihrem Kopf. Marcus kann nicht anders und küsst sie auf den Mund, wartet auf eine abwehrende Reaktion, die nicht erscheint, und küsst sie erneut, öffnet seinen Mund und spürt ihre Zunge an seiner. Er hebt sie vom Boden, wobei er sie fest umarmt, und trägt sie, noch immer küssend, zum Bett, legt sie behutsam auf die Matratze. Sie küssen sich und ziehen sich aus. Als er in ihr ist, gibt es keine Erinnerungen mehr und keine Fragen, nur das Jetzt. Ein weiterer Moment.
DAS GESCHENK MIT den gedruckten Luftballons. Marcus packte es aus, bevor er ging, das Letzte, was er tat, und Laura verstand es als das Besondere, was es sein sollte. Ein neues Kartendeck. Das hätte er vermuten können, ein neues Kartendeck für ein neues Leben. Für das er sich entschieden hat, bevor alles andere geschah. Ein Bycicle-Deck, bestimmt hat sie es von ihrem Taschengeld bezahlt, nur für ihn. Marcus war wieder den Tränen nahe, als er den blassen, kleinen Karton in der Hand hielt.
„Es heißt 'Ghost'“, sagte Laura, „ich fand es am schönsten und ich glaube, es passt zu dir. Es ist schwarz weiß, weißt du, und trotzdem sind da irgendwie alle Farben drin.“
Die Herz Dame zum Beispiel. Dort, wo dem Spieler (oder dem Zauberer und seinem Publikum) normalerweise die Farbe gezeigt wird, prangt ein schwarzes Herz. Aber unter dem Q, als einziger Hinweis, ist ein kleines, rotes Herz. Als wären die Farben nur verblichen, aber nie gewichen.
Farben ohne Farben. Wunderschön. So ähnelt die Herz Dame der Pik Dame, die keinen Hinweis braucht, so schwarz ist sie, schwarz wie Annas Haar.
Marcus mischt die Karten zum ersten Mal, als er in Shorts und T-Shirt bei Anna auf dem Sofa sitzt, am nächsten Morgen, noch ungeduscht und den getrockneten Duft ihres Liebesspiels am Körper. Drei Mal schliefen sie miteinander, sie auf ihm, er auf ihr, von hinten und im Stehen. Es war wie zu Beginn, ein Beginn von etwas Neuem. Und diesmal spürte er keine unterschwellige Aggression,
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