Blanks Zufall: Roman
konnte sie nicht wissen. Niemand weiß so etwas vorher, oder?“
WIE FRANK SCHMÜCKT Irmi ihre Geschichten mit Details, so auch über Efrat. Einzelheiten, die sie auch nach all den Jahren nicht vergessen konnte; und es ist immer wieder ein bestimmtes Bild, das vor ihrem geistigen Auge erscheint, um sie daran zu erinnern, was sie mit ihrer Freundin verbindet: wie die beiden Mädchen, gerade sechsjährig, mit den Kleidern ihrer Mütter vor dem großen Schlafzimmerspiegel in Efrats Wohnung stehen, sich eifrig aber unbeholfen mit Lippenstift schminken; wie unschuldig all das war in einer Zeit, noch bevor Hitler in Polen einmarschiert und die Juden alles verlieren, was ein Menschenleben seine Würde verleiht; wie sie von Efrats Mutter beschimpft werden, dass sie ihre Kleider ruinieren; wie gut sie riecht, Efrats Mutter, nach Frühling; und wie sie an jenem Nachmittag beschließen, eines Tages zu heiraten. Es ist diese geistige Ehe, die länger halten wird als ihre Ehemänner leben.
Marcus sieht wieder Bilder vor sich, wie bei einem Hörbuch, und es ist nicht mehr der Erzähler, der dieses Evozieren vermag, es ist der Hörer, war es vielleicht immer, und die rasselnde Stimme seiner Großmutter trägt ihn in eine andere Zeit, an einen anderen Ort.
Efrats Geschichte beginnt mit ihrer Auswanderung in die USA. Heute behauptet sie, in Deutschland überhaupt keine Geschichte gehabt zu haben, und wenn sie an ihre Erlebnisse mit Irmi denkt, dann sieht sie die beiden Mädchen, die sie damals waren, in New Hampshire und nicht in Hamburg. Auch wenn sie weiß, dass die Erinnerung falsch ist, so sind die beiden Dinge untrennbar miteinander verbunden.
Die Zeit in den USA spielt keine große Rolle, es war eine normale, vielleicht sogar glückliche Zeit, in der der Tod ihrer Eltern in einem der vielen KZs zu einer bösen Erinnerung verkommt, einer Erinnerung, die sehr wohl für immer bleibt und nie verblassen wird. Es ist ein Ort, wo der neue Mann, ein Christ, ein einfaches aber erfülltes Leben ermöglicht, wo Efrat mit neuen Freundinnen neue Themen findet. Und es ist der Ort, an dem Galilea geboren wird, vor allem ist es der Ort, an dem Galilea geboren wird, der Rest ist nicht so wichtig wie das. Galilea, nach dem großen Entdecker benannt, ins weibliche überführt. Ob es diesen Namen wirklich gibt, interessiert die Eltern beim Eintrag in die Geburtsurkunde nicht.
Galilea bleibt das einzige Kind von Efrat und James Claireborn. Mit dem Verschwinden ihres Mädchennamens Tellerbaum verschwindet auch ein Teil von Efrats Identität, den sie später in Israel wiederfinden wird, nie wieder ganz, aber vollständiger als in den USA.
Fast fünfzig Jahre lebt Efrat in den USA und Irmi braucht fünf Minuten, um die wichtigsten Ereignisse zusammen zu fassen: Galileas Studium der Naturwissenschaft und ihr hoch dekorierter Abschluss, ihr Entschluss in Israel zu arbeiten, weil sie dort während eines Urlaubs einen Mann kennen lernt. James' plötzlicher Tod an Herzversagen mit vierundsechzig Jahren und Efrats Entscheidung von New Hampshire nach New York zu ziehen. Dann die Anschläge auf das World Trade Center, die keiner vorhersehen kann, zumindest niemand aus dem gewöhnlichen Volk. Efrats Entschluss zu ihrer Tochter zu ziehen, obwohl die Lage im Nahen Osten sich wieder einmal verschärft.
Efrats Nach-Hause-Kommen. „Irmi, hier bin ich endlich Zuhause“, schreibt sie in ihrem ersten Brief, der Marcus' Großmutter aus Israel erreicht, „wenn nur James hier wäre, aber ich weiß ja gar nicht, ob er mit mir hierher gezogen wäre. Aber das Thema kam ja nie auf, weil ich nie das Verlangen spürte, meiner Tochter zu folgen. Aber jetzt bin ich hier. Und vielleicht glücklich. Ich hoffe, dass du mich irgendwann besuchen kommst.“ Was Irmi noch vorhat, vielleicht nächstes Jahr. Sie hat es schon seit Jahren vor. Endlich ihre alte Freundin wiedersehen, deren Entwicklung und Leben sie in den letzten siebzig Jahren nur anhand von Fotos und Briefen miterlebte.
„Siebzig Jahre“, sagt Irmi laut und trinkt einen Schluck Kaffee, „Mein Gott, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann ist das schon eine lange Zeit. Fast mein ganzes Leben kenne ich diese Frau und ich fühle mich ihr so nah verbunden und doch hab ich sie seit siebzig Jahren nicht mehr gesehen. Und immer, wenn ich an sie denke, geht mein Herz auf. Auch wenn es mich sehr traurig stimmt, was letztes Jahr geschah.“ Sie seufzt und trinkt einen weiteren Schluck. „Aber darum erzähle
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