Blaufeuer
Gespenster. Passt doch.
Janne nimmt die Pistole aus der Handtasche. Inzwischen hat sie keine Hemmungen mehr, die Waffe unverhüllt mit sich herumzutragen. Ihr Elternhaus ist verlassen und zugleich von Leben erfüllt, wie das Watt. Es raschelt, schabt und knarrt in allen Winkeln des betagten Gemäuers. Janne hat lange genug darin gelebt, um die Geräusche zu kennen. Die Türmchen und Erker der Villa am Meer sind ein einziges opulentes Windspiel. Und das Gebälk atmet im Schlaf.
Sie schleicht durch die Räume, ohne Licht einzuschalten. Es ist eine mondhelle Nacht, und auch der Schein der Straßenlaternen fällt durch die hohen Fenster ins Haus. Mehr Helligkeit braucht sie nicht. So wird sie von draußen wenigstens nicht gesehen.
In ihrem Zimmer setzt sie sich angezogen aufs Bett. Kann Birger reiten? Oder schießen? Auf alle Fälle war er derjenige, der sie überredet hat, zur dieser Gesellschaftsjagd zu gehen. Andererseits hätte er diverse Gelegenheiten gehabt, sie umzubringen. Sie waren häufig unbeobachtet: am Fischereihafen, bei ihm in der Wohnung, in seiner Hütte im Vogelschutzgebiet. Warum tat er es nicht? Möglicherweise wollte er ihr ursprünglich nur drohen und ist schrittweise zu dem Entschluss gelangt, sie zu töten. Wollte er es wie einen Unfall aussehen lassen? Dann dürfte ihre riskante Aktion an den Klippen auf Helgoland eine echte Einladung für ihn gewesen sein. Eine Steilvorlage sozusagen.
Das Handy klingelt. Ihre Mutter ist dran und will wissen, wie Jannes Besuch im Krankenhaus war. Die Antwort wartet siekaum ab, bevor sie die nächste Frage stellt: »Wie ist es allein in dem großen Haus?«
»Nicht so toll.«
»Hast du etwa Angst?«
»Nein. Wieso sollte ich?«, erwidert Janne und betrachtet die Walther in ihrer Hand.
Ihre Mutter geht nicht weiter darauf ein. »Du wolltest dir ja sowieso etwas Eigenes suchen«, sagt sie.
»Ja, das werde ich wohl. Könntest du mir einen Gefallen tun? Ich erreiche Meinhard nicht. Würdest du ihm ausrichten, dass Papa aufgewacht ist?«
»Das ist schwierig. Ich bin nicht bei ihm, sondern bei meiner Studienfreundin Claudia. Meinhard ist nämlich umgezogen, und ich habe ihn bisher auch nicht gesprochen.«
»Was soll das heißen, er ist umgezogen?«, fragt Janne.
»In seiner ehemaligen Wohnung lebt jetzt ein Pärchen. Die beiden haben mir erzählt, er sei mit seiner Freundin zusammengezogen. Ist das nicht typisch Meinhard? Da hat er endlich jemanden gefunden, mit dem er sich zusammentun will, und erzählt niemandem ein Sterbenswörtchen. Vermutlich wollte er sie erst einmal aus allem heraushalten, um sie vor den schrecklichen Dingen zu beschützen, die in unserer Familie passiert sind. Oder er fand es unangemessen, uns gerade jetzt sein Glück zuzumuten. Er ist so ein rücksichtsvoller Mensch.«
Janne zieht die Nase hoch, da gerade kein Taschentuch greifbar ist. Ob es typisch für ihren Bruder ist, seine Freundin geheim zu halten, kann sie nicht beurteilen, sie kennt ihn nicht verliebt. Auf dem Gymnasium war er ein Jahr mit einem Mädchen aus dem Schulchor zusammen, und seit dem Studium hat er sich nur auf flüchtige Beziehungen eingelassen, meistens mit Ärztinnen. Sie denkt an ihr jüngstes Zusammentreffen, den Streit im Auto. Glück hat ein anderes Gesicht.
»Janne, bist du noch dran?«
»Ich muss Schluss machen. Melde dich, sobald du etwas von Meinhard hörst.«
Sie setzt ihre Runde durch das Haus fort. Es kommt ihr vor, als hätte sie sich nachts in einem Museum einschließen lassen: Und hier die Gemächer des Königspaares. In diesem Bett wurden beide Prinzen gezeugt. Man hört, die Ehe sei aus politischen Gründen geschlossen worden und alles andere als erfüllt gewesen. Wo und unter welchen Umständen es zur Empfängnis der unehelichen Tochter kam, ist nicht überliefert ...
Vom Elternschlafzimmer geht es weiter zu den Jugendzimmern ihrer Brüder. Sie setzt sich auf Meinhards Schreibtisch, lässt die Beine baumeln und betrachtet die Lichter des Hafens, die von hier aus gut zu sehen sind. Das marineblaue Firmenlogo der Flecker-Werft ist erleuchtet. Sie unterdrückt ihre Verwunderung über die Neuigkeiten aus dem Privatleben ihres Bruders. Ist Birger Harms ein Mörder? Das ist die einzige Frage, die sie im Augenblick zu interessieren hat. Hat er Erik umgebracht? Und hatte er das so geplant, oder wollte er ursprünglich den Mann töten, dem er in gewisser Weise hörig war? Beides ist denkbar und kann demselben Motiv entsprungen sein: Hass auf Paul
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