Blaufeuer
persönliche Enttäuschung.«
Schweigend putzt Janne sich die Nase.
Die Tür öffnet sich einen Spalt, und ein älterer Herr steckt den Kopf ins Zimmer. »Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie noch ein Beratungsgespräch haben«, sagt er und zieht sich zurück wie eine Schildkröte, die Gefahr wittert.
Friederike Reemts holt tief Luft.
»Der Bibelkreis, ich weiß. Ich gehe schon«, sagt Janne und steht auf.
»Nein, Janne, warten Sie, ich muss noch etwas loswerden. Ich bin unverheiratet und kinderlos. Und ich liebe Ihren Vater aufrichtig.«
Wie oft sie diesen Satz nun schon gehört hat. Janne will eine spöttische Bemerkung fallen lassen, doch der Ausdruck im Gesicht der Pastorin hält sie zurück. Ein leises Lächeln. Es ist keinerleiBedürftigkeit darin zu lesen. Kein Trotz, kein Besitzanspruch. So sieht jemand aus, der weiß, dass seine Liebe erwidert wird. Kann das sein? Liebt ihr Vater diese Frau, die geschätzte dreißig Jahre jünger ist als er? Janne ahnt die Antwort. Deshalb steht Friederike Reemts auch auf der handverlesenen Liste derjenigen, die ihn im Krankenhaus besuchen dürfen. Und deshalb hat er in ihrer Gegenwart so viel von sich preisgegeben. Grenzenloses Vertrauen.
»Dann habe ich gute Nachrichten für Sie«, sagt Janne. »Momentan ist er solo, glaube ich. So genau weiß man das bei ihm natürlich nie.«
Friederike Reemts lacht auf. Ein helles Lachen, mädchenhafter, als ihre tiefe Sprechstimme vermuten lässt. »Nein, das stimmt, bei ihm weiß man nie.«
Bevor sie ein Gebäude verlässt, hat Janne sich angewöhnt, die Umgebung genau zu betrachten. Das Gemeindehaus liegt in einem ruhigen Wohnviertel, die Luft ist rein. Eine hochgewachsene junge Frau führt ihren Hund Gassi, eine Promenadenmischung. Sie trägt einen dunklen Kapuzenpullover unter einer Daunenjacke. Als sie auf gleicher Höhe sind, greift sie in ihre Brusttasche. Janne zuckt zusammen. Es ist, als würde ihr Puls für einen Schlag aussetzen. Die Frau mit dem Mischlingshund zieht ein Handy hervor und schaut aufs Display. »Oh, ich glaube, es ist Ihres«, sagt sie.
Erst da bemerkt Janne das Klingeln. Jetzt hämmert ihr Herz wie wild. Sie fischt das Handy aus der Handtasche, nicht ohne dabei fast noch die Pistole mit herauszureißen, und nimmt das Gespräch entgegen. Es ist Schwester Marit, die klingt, als wäre sie gerannt. »Ihr könnt die Champagnerkorken knallen lassen. Dein Vater ist aufgewacht«.
PAUL
Sein Mädchen. w/ozu c[ieser dämliche Mundschutz? Den soll sie abnehmen, aber dalli. Er will sie pur sehen, ihr feines Gesicht, nicht nur diese riesigen blauen Augen mit den langen Wimpern, die sie von ihrer Mutter mitbekommen hat. Wieso weint sie denn?
»Er ist halbseitig gelähmt«, sagt Marit.
Na, die ist gut, von wegen halbseitig, sie kann ihm gleich verraten, welches die bewegliche Seite ist, er hat sie noch nicht gefunden.
»Deswegen hängt das rechte Lid«, ergänzt die Schwester.
Sein Lid hängt? Wie grässlich. Arme Janne, weint sie etwa, weil sein Anblick eine Belastung für sie ist? Ach was, sie dürfte inzwischen Schlimmeres gewohnt sein, so oft wie sie ihn besucht hat. Dafür will er sich augenblicklich bedanken, insbesondere für das Privatkonzert an seinem Bett, das ihm so viel bedeutet hat. Dank darf man nicht auf die lange Bank schieben. Er bewegt die Lippen, das funktioniert schon mal. Aber seine Zunge will nicht so, wie er will. Wie eine labberige Gewürzgurke blockiert sie seinen Mund. Er gibt gurgelnde Geräusche von sich. Verdammt.
»Ich ... ich ...«
Ihre Sprechversuche sind auch nicht überzeugend.
»... Ich bin so froh. Du glaubst gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe«, sagt Janne.
Und er sie erst. Sie hustet. Das klingt aber gar nicht gut.
»Ich bin erkältet. Deshalb der Mundschutz. Und ich darf dich nicht anfassen.«
Wer hat das angeordnet? Eine Unverschämtheit. Selbstverständlich darf seine eigene Tochter ihn anfassen, so oft sie möchte, und wenn sie die Cholera hätte. Na los, Janne, nimm den Lappen vom Gesicht und drück deinem alten Herrn ein Küsschen auf die Wange. Doch sie hält Abstand.
»Ich muss dir etwas sagen, Paps. Ich würde es dir gern nocheine Weile ersparen, aber du wirst dich ohnehin schon gewundert haben, warum Mama nicht hier ist.«
Er versucht, ein Kopfschütteln anzudeuten. Unnütz, dass sie sich so quält, er weiß es längst.
»Sie hat dich verlassen. Ich habe sie auf dem Weg hierher angerufen und ihr gesagt, dass du wach
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