Blaufeuer
Flecker.
Genau hier liegt der Schwachpunkt dieser Theorie: Birger hasst ihren Vater nicht. Niemand scheint ihn zu hassen. Sie hat mit so vielen Leuten über ihn geredet, hat schmutzige, aufregende und komische Details aus seiner Vergangenheit ans Licht gezerrt - aber Hass ist ihr nirgendwo begegnet. Sie selbst hasst ihn ja auch nicht, obwohl sie zu den Menschen gehört, die von ihm hintergangen wurden. Jahrelang. Trotzdem liebt sie ihn. Alle lieben Paul Flecker. Nicht, dass er das verdient hätte, doch es ist so. Nur einer konnte ihm nicht verzeihen, dieser Stammesfürst aus Afghanistan - und der ist tot und begraben. Und seinezwölf Söhne haben bestimmt andere Sorgen, als die Ehre ihres Vaters mit Hilfe einer Fuchsfalle wiederherzustellen.
Janne massiert sich den Nacken. Sie würde gern ein Bad nehmen. Jeder Muskel ihres Körpers ist verspannt, und ihre Schulter tut häufig weh, seit sie an den Klippen vom Stein getroffen wurde.
Irgendwie ergibt das alles keinen Sinn. Sie hat das Gefühl, wieder ganz am Anfang zu stehen. Das Einzige, was sie definitiv weiß, ist, dass da draußen jemand wartet, der es auf sie abgesehen hat, weil er ihre Nachforschungen unterbinden will. Oder weil er verrückt ist. Vielleicht will dieser Verrückte schlicht und einfach ihre Familie zerstören - womit er außerordentlich erfolgreich ist. Vielleicht liegt die Lösung des Rätsels aber auch unter den Trümmern von Eriks Leben verborgen. Dort hat sie noch nicht gesucht. Weiß Gott, was da zu finden ist, falls die Ähnlichkeit mit seinem Vater nicht auf Äußerlichkeiten beschränkt gewesen sein sollte ...
Janne verlässt Meinhards Zimmer, überblickt vom Flur aus die Straße. Die Polizei ist noch da. Ihre Angst auch. Ihr wird bereits übel davon. Es kann so nicht weitergehen. Deswegen wird sie morgen endgültig die Waffen strecken, bevor sie selbst verrückt wird. Soll sich Hagedorn um Eriks Vergangenheit kümmern. Der Kommissar hat ohnehin kapiert, dass sie ihm nicht einmal die Hälfte von dem erzählt hat, was sie weiß. Aber das wird sich ändern: Morgen kommt alles auf den Tisch. Sie wird zuerst zu ihrem Vater gehen und danach zur Kripo. Ihr reicht es jetzt.
Vor Tagesanbruch. Meinhard, wo steckst du bloß? Unzählige Male hat Janne versucht, ihren Bruder anzurufen, seine Mailbox mit Nachrichten bombardiert. Er hat nur diesen einen Anschluss, bei ihm sind Festnetz- und Mobiltelefonnummer identisch. ImGegensatz zu ihrer Mutter findet sie es keineswegs rücksichtsvoll von ihm, umzuziehen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. In ihren Augen ist es eine Frechheit. Sie beschließt, in der Uniklinik nach ihm zu fragen, obwohl er sie oft darum gebeten hat, ihm nicht hinterherzutelefonieren, solange er im Dienst ist. Das hat er nun davon.
»Guten Morgen, Universitätsklinik Eppendorf. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte Doktor Meinhard Flecker sprechen. Unfallchirurgie.«
»Einen Augenblick bitte.«
Eine Computertastatur klackert. Es klingt, als würde die Frau wesentlich mehr als einen Namen eingeben - und entsprechend lange muss Janne warten.
Schließlich meldet sie sich wieder. »Ein Doktor Meinhard Flecker in der Unfallchirurgie ist mir leider nicht bekannt. Auch in den anderen Abteilungen kann ich ihn nicht finden. Ich verbinde Sie mal mit der Chirurgie, weil ... ich bin noch nicht so lange hier im Hause. Wiederhören.«
Janne hängt in der Warteschleife. »Eine kleine Nachtmusik«. In der Chirurgie lässt man sich Zeit. Janne ist kurz davor aufzulegen. Als endlich abgehoben wird, meldet sich eine Ärztin, die Meinhard vor zwei Jahren einige Male mit nach Cuxhaven gebracht hat. Janne erinnert sich noch gut an sie. Eine Seglerin. Sehr attraktiv.
»Hi, hier ist Janne Flecker. Ich glaube, wir kennen uns, ich bin Meinhards Schwester. Ist er da? Könnte ich ihn bitte sprechen? Es ist dringend.«
Eine Pause entsteht. »Meinhard arbeitet nicht mehr hier.«
»Oh.« Sie schluckt trocken. »Seit wann?«
»Darüber unterhältst du dich am besten mit ihm, Janne. Sorry, ich muss weitermachen.«
Das Telefonat wird unterbrochen. Janne steht da, hält den Hörer umklammert und wartet darauf, dass ihr Gehirn anspringt und ihr mitteilt, was das nun wieder zu bedeuten hat. Aber nichts dergleichen geschieht. Ihr Kopf ist leer, ihr Hals tut weh, und draußen wird es langsam hell.
Das Klingeln des Mobiltelefons reißt sie aus der Starre. Meinhard. In bester Laune, wie ihr scheint. Er hat nachts seine Mailbox abgehört und sich
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