Blaufeuer
Erdbeere in den Mund. »Abwarten«, murmelt sie und verschläft den Rest des Flugs.
Auf dem Flughafen in Honolulu bekommt Birger Harms wegen eines Erdnusstütchens, das er aus dem Flugzeug mitgenommen hat und nicht einführen darf, Schwierigkeiten mit einer übergewichtigen Zöllnerin. Da er keinen Hehl daraus macht, was er von den amerikanischen Einreiseformalitäten hält, befürchtet Janne, sie müssten sofort zurückfliegen oder den Urlaub im Gefängnis verbringen. Zum Glück ist sein Englisch schwer zu verstehen, seine Aussprache erinnert eher ans Helgoländische. Fünf Stunden nach der Landung, es ist bereits dunkel und angenehme zwanzig Grad warm, betreten sie amerikanischen Boden und nehmen ein Taxi zum Hafen, wo Birger sie zu einer eleganten Decksalon-Yacht führt. Ihr Name lautet Elfie.
PAUL
Die Postkarten kommen aus Honolulu, Maui und Molokai. Friederike hält sie für ihn fest, damit er sie lesen kann. Viel steht nicht drauf, der reinste Wetterbericht. Einmal schreibt Janne, sie hätten an Bord eine Party veranstaltet, bei der ziemlich viel zu Bruch gegangen sei. Klingt gut. Mit Hilfe der Buchstabentafel bittet er Rieke, ihm vorzulesen, was die Zeitungen über seine Familie schreiben, aber sie weigert sich und hat wohl auch das Krankenhauspersonal entsprechend instruiert, denn er bekommt kein einziges Blatt zu sehen. Drei Briefe treffen ein: Viktoria hat die Scheidung eingereicht und lässt dies über einen Anwaltmitteilen. Janne schildert im Telegrammstil die Vorgänge am Deutschen Olymp. Der dritte Brief kommt aus dem Gefängnis und stammt von Meinhard. Paul Flecker lässt ihn ungeöffnet zurücksenden.
Seine Genesung macht Fortschritte. Ob ihn das freut, weiß er nicht. Nach einiger Zeit verfrachten sie ihn in eine Rehaklinik, wo er tagein, tagaus Krankengymnastik und Sprachtherapie über sich ergehen lassen muss. Zu allem Überfluss sind seine Therapeuten ausschließlich Männer. Er vermutet, dass Rieke da ebenfalls ihre Hände im Spiel hat. Trotzdem müht er sich redlich, das lenkt wenigstens ab. Er hält viel von Ablenkung. Mehr als von Aufarbeitung, wie es heutzutage heißt. Wenn er doch ins Grübeln kommt, was vor allem nachts geschieht, kreisen seine Gedanken um eine Frage: Hätte er es verhindern können? Natürlich hat er die Rivalität zwischen den Brüdern bemerkt, teilweise sogar gefördert, um sie beide zu Höchstleistungen anzuspornen. Mit Erfolg, wie es schien. Dass Meinhard seinen Bruder hasste, ist ihm nie bewusst gewesen. Nur die glänzende Medizinerlaufbahn hat der Eifersucht vorübergehend Grenzen setzen können. Als die Karriere zerbrach, geriet Meinhards Welt aus den Fugen. Und wieder die Frage, ob er als Vater den Brudermord hätte verhindern können. Gab es Notsignale? Da waren zum Beispiel Meinhards häufige Anrufe in der Zeit vor dem Mord - eine Art Blaufeuer? Wie weit reicht die Verantwortung der Eltern für die Taten der Kinder?
»Du hast schon genug mit deinen eigenen Sünden zu kämpfen. Dein Sohn ist alt genug, um die seinen selbst auf sich zu nehmen«, sagt Friederike.
Es tut gut, das zu hören, obgleich es ihn nicht ganz überzeugt. Zu Weihnachten schleppt Rieke eine duftende Nordmanntanne an sein Bett und schmückt sie - da hilft kein Protest. Ihm ist nicht nach Weihnachten. Aus der Südsee kommt kein Gruß zurHeiligen Nacht. Aber am Silvesterabend steht Janne braungebrannt und strohblond plötzlich mitten im Zimmer, und das Erste, was sie sagt, ist: »Was für ein königlicher Baum.«
Da ist er doch froh über das Lametta, die Kerzen und den anderen Flitterflatter. Frauen sind eben alle gleich.
Epilog
Ostwind, auffrischend. So geht das seit Tagen. In der Nacht soll ein ablandiger Sturm daraus werden oder sogar ein Orkan. Ich bin weit gelaufen. Sandflug wie in der Sahara, so ausgetrocknet sind die Wattflächen.
Ich habe dich lange nicht dort draußen besucht, was daran liegt, dass ich so viel zu tun habe. Russlandhilfe. Wir kümmern uns um aidskranke Straßenkinder in St. Petersburg. Du wusstest vermutlich, dass Papa sich da jahrelang engagiert hat. Dir hat er ja immer alles erzählt. Jetzt klinge ich schon wie Meinhard. Dieser bittere Neid.
Dass wir davon nie etwas bemerkt haben, ist unfassbar. Friederike Reemts hat mich dazu gebracht, die Briefe zu lesen, die er Papa aus dem Gefängnis schreibt. Unser Vater weigert sich, sie auch nur in die Hand zu nehmen. Es steckt viel Wahrheit in diesen seitenlangen, teilweise unerträglich larmoyanten
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